Modesty Blaise habe ich in den Jahren vor meinem Abitur kennengelernt. Ich war damals jeden Tag längere Zeit mit Bus und Bahn unterwegs, und wann immer mir das Geld meiner Nachhilfeschüler in der Tasche brannte, habe ich meinen Verdienst in der Bahnhofsbuchhandlung in neuen Lesestoff umgesetzt. So sehr ich James Bond und andere Helden meiner Jugend gemocht habe (und immer noch mag), so glücklich war ich, als ich mit Modesty Blaise einen starken weiblichen Charakter kennenlernte, der es mit den diversen Schurken aufnehmen konnte.
Entstanden ist Modesty Blaise ursprünglich als Comicfigur, aber ich habe immer den Romanen den Vorzug gegeben – vermutlich auch deshalb, weil „meine“ Modesty Blaise lange nicht so perfekt und makellos aussah wie die Figur in den Comicpanels. Stattdessen hat sich mir dieses Bild von ihr als erster Eindruck eingeprägt: Modesty Blaise, die an einer Schleifscheibe sitzt und einen Edelstein bearbeitet. Dazu kamen dann im Laufe der verschiedenen Romane noch viele andere Eindrücke, vor meinem inneren Auge sehe ich sie barfuß durch unwegsames Gelände wandern und einen im Feuer gebratenen Igel verspeisen, ich sehe sie mit einem Kampfstab trainieren und für einen Bildhauer Modell sitzen …
Modesty Blaises Vergangenheit ist sehr bewegt. Wo und wann sie geboren wurde, weiß sie nicht. Ihre ersten Erinnerungen drehen sich um Flüchtlingslager in Nordafrika und einen alten Mann, der ihre Neugier weckt und sie als kleines Mädchen dazu bringt, so viel Wissen wie möglich anhäufen zu wollen. Um unter diesen Umständen zu überleben, bedarf es schon einer gewissen Skrupellosigkeit, eines scharfen Verstandes und einer ausgeprägten kriminellen Energie. Das alles hat dann auch dazu geführt, dass Modesty sich als Teenager einer Bande anschloss, deren Anführerin sie im Laufe der Jahre wurde. Später wurde diese verbrecherische Organisation als „Das Netz“ international bekannt und betätigte sich auf allen kriminellen Gebieten (abgesehen von Drogen und Prostitution).
Als Modesty genug Geld zur Seite gelegt hatte, um sich ohne weitere Arbeit einen Lebensabend in Wohlstand gönnen zu können, gab sie „Das Netz“ auf und ließ sich in England nieder. Zu diesem Zeitpunkt war sie Ende Zwanzig –und musste schnell feststellen, dass so ein sicheres Leben auf Dauer verflixt eintönig sein kann. Gemeinsam mit Modesty ging auch ihr Freund Will Garvin „in Rente“, und bei ihm führt die Langeweile dazu, dass er sich in Schwierigkeiten brachte, von denen schließlich der Britische Geheimdienst erfuhr. Leiter des Geheimdienstes ist zu dieser Zeit Sir Gerald Tarrant, ein Herr, der dringenden Bedarf an einer talentierten Mitarbeiterin hat, die nicht direkt der britischen Regierung angehört. So kommt es dazu, dass er – als Gegenleistung dafür, dass er Modesty über Wills Verbleib informiert – zu einer Art Auftraggeber für die ehemalige Kriminelle und ihren besten Freund wird.
Obwohl auch Modesty als „Geheimagentin“ für Großbritannien unterwegs ist, hat sie – in meinen Augen – wenig Ähnlichkeit mit James Bond. Sie ist eine starke Frau, die diverse Kampfsportarten (und andere nützliche Dinge) beherrscht, sie ist intelligent und verfügt über ein umfassendes Wissen, ist finanziell unabhängig und versucht, nach ihrem Ausstieg aus dem „Netz“ nur noch auf der Seite der „Guten“ aktiv zu werden. Doch neben all ihren tollen Eigenschaften ist sie deutlich verletzlicher und menschlicher dargestellt, als es bei James Bond der Fall ist. Modesty hat zum Beispiel Momente, in denen sie einsam ist, denn auf Dauer kommt kein Mann mit ihrer Vergangenheit und ihren Fähigkeiten zurecht. Einzig Will Garvin, mit dem sie eine platonische Freundschaft und die gemeinsame Vergangenheit verbindet, ist immer für sie da. Und er ist es auch, der an ihrer Seite ist, wenn sie mal ihrer Trauer, ihrer Frustration oder ihrem Entsetzen über die von ihr im Überlebenskampf getanen Dinge freien Laufe lassen muss.
Ich mag die Beziehung zwischen den beiden gerade deshalb, weil es keine Liebesgeschichte ist. Dafür haben sie ein paar unterhaltsame Angewohnheiten, wie zum Beispiel die Suche nach Fremdwörtern, die der andere vermutlich nicht kennt und die man im Gespräch beiläufig anbringen kann (was dann dazu führt, dass derjenige, der das Wort nicht kennt, so schnell wie möglich ein Lexikon zu Rate zieht, um im nächsten Dialog zu beweisen, dass ihm das Fremdwort sehr wohl geläufig ist). Außerdem gefällt es mir, dass sich die beiden, wenn sie sich für etwas Neues interessieren, mit aller Kraft darauf stürzen, um so viel wie möglich zu lernen und zu trainieren. Dieser Zug macht es für mich relativ glaubwürdig, dass sie so viele Fähigkeiten haben, über die ein normaler Mensch nicht verfügt.
Ach ja, ich habe die alten Goldmann-Ausgaben der Modesty-Blaise-Romane, die schon lange nicht mehr erhältlich sind. Aber der Unionsverlag hat ein paar Titel von Peter O’Donnell in den letzten Jahren neu aufgelegt, so dass zumindest ein paar Romane aktuell erhältlich sind. Diese Titel habe ich inklusive ISBN in der Liste hinter dem Schrägstrich angegeben.
Modesty-Blaise-Romane (und Kurzgeschichtensammlungen) von Peter O’Donnell
- Die tödliche Lady (Modesty Blaise; 1965)
- Die Lady bittet ins Jenseits/Operation Säbelzahn 978-3293203631 (Sabre-Tooth; 1966)
- Die Lady reitet der Teufel (I, Lucifer; 1967)
- Ein Gorilla für die Lady/Ein Hauch von Tod 978-3293203877 (A Taste of Death; 1969)
- Die Goldfalle/Die Goldfalle 978-3293203495 (The Impossible Virgin; 1971)
- Die Lady macht Geschichten (Pieces of Modesty; 1972)
- Die silberne Lady (The Silver Mistress; 1973)
- Heiße Nächte für die Lady (Last Day in Limbo; 1976)
- Die Lady fliegt auf Drachen/Die Klaue des Drachen 978-3293203310 (Dragon’s Claw; 1978)
- Die Lady will es anders/Der Xanadu-Talisman 978-3293203662 vergriffen (The Xanadu Talisman; 1978)
- Die Lady spannt den Bogen (The Night of Morning Star; 1982)
- Die Lady lässt es blitzen (Dead Man’s Handle; 1985)