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[Figurenkabinett] Leonidas Witherall

Leonidas Witherall habe ich zur selben Zeit kennengelernt wie Peter Shandy, denn auch seine Geschichten wurden in „DuMonts Kriminal-Bibliothek“ veröffentlicht. Und da die Romane nicht chronologisch auf Deutsch veröffentlicht wurden, begann meine Bekanntschaft mit ihm mit dem Titel „Mit dem linken Bein“. Eigentlich ist Leonidas Witherall ein sehr respektabler (ehemaliger) Akademiker, dessen äußerliche Ähnlichkeit mit William Shakespeare dafür sorgt, dass ihm ständig Menschen begegnen, die sich sicher sind, dass sie ihn schon kennen. Obwohl Leonidas ganzen Generationen von Schülern die Liebe zur hohen Literatur nahegebracht hat, ist er zu Beginn dieser Romanreihe gezwungen, sich Geld dazuzuverdienen, weil sein Einkommen während der Wirtschaftskrise nicht ausreicht.

Finanzielle Sicherheit bringt ihm erst der Erfolg seiner „Lieutenant Hazeltine“-Abenteuer, einer skurrilen Reihe von trivialen Kriminalgeschichten, die auch fürs Radio umgesetzt wurden. So sehr Leonidas das Einkommen aus dieser Beschäftigung genießt, so sehr schämt er sich dafür, dass er solch niveauloses Zeug produziert. Deshalb achtet er sehr darauf, dass niemand erfährt, dass er der Autor dieser Geschichten ist – auch wenn er sich immer wieder darüber freut, wenn er begeisterte Fans seiner Figuren trifft. Abgesehen davon, dass sich Leonidas nicht zu seinen erfolgreichen Geschichten bekennen will, ist er ein freundlicher und hilfreicher Mann, der in dem (fiktiven) Bostoner Vorort Dalton hohes Ansehen genießt.

Leonidas Witherall ist sein geruhsames Akademikerleben eigentlich sehr wichtig, und doch gerät er immer wieder in skurrile und rätselhafte Situationen (die wunderbare Inspirationen für seine Hazeltine-Geschichten bieten). So auch in dem Roman „Mit dem linken Bein“, der damit beginnt, dass Leonidas (mitsamt eines beinförmigen Päckchens, das er mit sich führt) aus einem Bus geworfen wird, weil er angeblich eine junge Dame unangemessen behandelt hat. Obwohl der frühere Lehrer kein Wort mit der Frau gewechselt hatte, versteckt er sich lieber in einem Geschäft, als er sieht, dass die junge Dame mit ihm aus dem Bus gestiegen ist und mit einem Polizisten redet. Während sich Leonidas noch fragt, was überhaupt in die Fremde gefahren ist, dass sie ihn ohne Grund so beschuldigt, stellt sich heraus, dass der Ladenbesitzer ein ehemaliger Schüler von ihm ist.

Und da der Geschäftsinhaber ein netter junger Mann ist, erklärt er sich bereit, Leonidas mit seinem Wagen nach Hause zu fahren. Allerdings muss er sich eben noch umziehen, bevor er den Laden abschließt, und so lässt er Leonidas für einen kurzen Moment allein in seinem Verkaufsraum. In dieser Zeit betritt ein Mann das Geschäft, der von Kopf bis Fuß grün gekleidet ist, öffnet die Kasse und verschwindet mit dem Bargeld, bevor Leonidas noch ein Wort sagen kann. Unter diesen Umständen ist es nicht allzu verwunderlich, dass der Ladenbesitzer angesichts seiner geplünderten Kasse (und der immer noch herrschenden Wirtschaftskrise) anfängt, seinen ehemaligen Lehrer des Diebstahls zu verdächtigen. Währenddessen macht sich Leonidas aus dem Staub, in der Hoffnung den eigentlich Dieb aufzuspüren …

So wie diese ersten Szenen sind die ganzen Romane rund um Leonidas Witherall aufgebaut. In jedem einzelnen gerät dieser gesetzte und gebildete Mann von einer skurrilen Situation in die nächste. Dabei ist jede Szene für sich zwar ungewöhnlich, aber gar nicht mal so abwegig. Nur in der Summe wird daraus eine rasante, witzige, rätselhafte und unfassbare Geschichte, bei der erst am Ende – nach einem actionreichen und amüsanten Showdown – die Hintergründe deutlich werden. Letztendlich gelingt es Phoebe Atwood Taylor immer, für jede einzelne Absurdität ein schlüssiges Motiv zu präsentieren, was bei mir den Unterhaltungswert der Romane deutlich steigert.

Bei den Leonidas-Witherall-Romanen mag ich nicht nur die vielen skurrilen Szenen, sondern auch die liebenswerten Charaktere (eine bunte Mischung, die vom Akademiker über den Ladenbesitzer von nebenan bis zum Alkoholschmuggler alles beinhaltet), die wunderbar spritzigen Dialoge, die an eine Screwball-Komödie erinnern, und die Tatsache, dass ich während des Lesens vor lauter Lachtränen kaum die Buchstaben sehen kann.

Doch vor allem bewundere ich Leonidas Witherall, der trotz all der seltsamen Momente versucht, seine Würde und Fassung zu bewahren, der ohne Vorurteile mit den verschiedensten Menschen umgeht (als Lehrer hat man eben nicht nur Menschenkenntnis, sondern auch schon eine Menge seltsamer Sachen gesehen) und der Freunden (und Fremden) jederzeit hilfsbereit zur Seite steht. Ihm ist es in der Regel zu verdanken, dass die Geschichten am Ende für alle Beteiligten gut ausgehen, auch wenn er dafür immer wieder Pläne schmieden muss, die eines Lieutenant Hazeltine würdig wären.

Wer jetzt Lust auf Leonidas Witherall bekommen hat, der wird im normalen Buchhandel leider nicht mehr fündig. Aber gebraucht gibt es noch einige Titel mit ihm zu erstehen, und die sind in der Regel auch sehr günstig zu haben.

Leonidas-Witherall-Romane von Phoebe Atwood Taylor:

Schlag nach bei Shakespeare
Wie ein Stich durchs Herz
Kalt erwischt
Mit dem linken Bein
Zu den Akten
Todernst
Es liegt auf der Hand
Die leere Kiste