„Netzhaut“ ist der zweite Roman des Autors Torkil Damhaug – das wusste ich, als ich das Buch zum Antesten in Erwägung zog. Allerdings war ich anhand des Klappentextes nicht davon ausgegangen, dass die beiden Titel des Autors in Verbindung miteinander stehen. Ich hätte wirklich nichts gegen ein paar für sich stehende Einzeltitel – oder aber eine ausreichende Information durch den Verlag. Immerhin muss ich zugeben, dass man erst im dritten Teil des Buches das Gefühl hat, man hätte Wissenslücken. Da erst kommt die Polizei ins Spiel und es gibt immer wieder Anspielungen auf die Handlung des ersten Romans des Autors.
Insgesamt wird die Geschichte in vier Teilen erzählt, wobei davor noch ein über 50-seitiger Prolog kommt, der im Jahr 1996 auf Kreta spielt und das Leben des damals zwölfjährigen Jo zeigt. Der Junge ist mit seinen Eltern und den beiden jüngeren Geschwistern im Urlaub und vollkommen überfordert mit der alkoholkranken Mutter (die ihrem Sohn gegenüber ständig Grenzen überschreitet) und der Betreuung der anderen beiden Kinder. Seine Rettung scheint die Bekanntschaft zu einem – fernsehbekannten – Erwachsenen, der Jos Gesellschaft zu genießen scheint.
Der Rest des Romans spielt zwischen dem November 2008 und Januar 2009. Hauptfigur ist dabei die in Amsterdam lebende Liss. Obwohl sie eigentlich Designstudentin ist, arbeitet die junge Norwegerin vor allem als Model. Schnell wird einem als Leser klar, dass Liss so richtig im Dreck steckt. Der Typ, der ihr ihre Aufträge verschafft, will, dass sie sich prostituiert, und versorgt sie regelmäßig mit Drogen. Und der Rest ihres Umfeldes ist auch nicht besser. Einziger Halt in Liss‘ Leben ist ihre große Schwester Mailin. Diese lebt und arbeitet zwar als Psychologin in Oslo, hält aber intensiven Kontakt zu Liss, besucht sie regelmäßig und ist immer für sie da. Als Liss nun erfährt, dass die sonst so zuverlässige Mailin spurlos verschwunden ist, ist sie sich sicher, dass der Schwester etwas Schlimmes zugestoßen ist, und macht sich auf den Weg nach Oslo, um Mailin zu suchen.
Ich muss gestehen, dass ich immer noch nicht so genau weiß, was ich von der Geschichte zu halten habe. Auf der einen Seite gab es mir hier viel zu viele kaputte Charaktere, zu deren Alltag der Drogenkonsum ebenso gehörte wie ein erschreckend gleichgültiger/verächtlicher Umgang mit anderen Menschen. Es gab kaum eine Figur, bei der nicht der Verdacht auf Kindesmissbrauch in der Vergangenheit oder ein ähnliches Drama im Raum hing. Außerdem stellte sich die Polizei, die keine so große Rolle in diesem Buch einnahm, häufig erschreckend kurzsichtig an, während Liss – trotz eines sehr kopflosen Vorgehens – ständig Informationen bekam, die sie dann nicht der Polizei (aber zumindest häufig der Pathologin) mitteilen wollte.
Auch bei der Auflösung fühlte ich mich vom Autor künstlich dumm gehalten. Nach dem Prolog lag es auf der Hand, dass Jo (und vielleicht sogar sein deutlich älterer „Freund“) irgendwie in das Verschwinden von Mailin involviert sind. Auch war mir bewusst, dass all die Personen, die Torkil Damhaug in den Blickpunkt gerückt hatte, nicht als Täter in Frage kamen. So blieben recht schnell nur noch zwei Charaktere als mögliche Verdächtige übrig – und da ich mir sicher war, dass ich die Lösung gefunden hatte, wartete ich dann ungeduldig darauf, dass der Autor endlich zwei relevante Informationen ausspuckt, die meinen Verdacht bestätigen. Das war allerdings erst am Ende des Romans der Fall und zu dem Zeitpunkt war ich schon etwas genervt von all den künstlichen Verzögerungen.
Allerdings fand ich Liss und Mailin als Figuren erstaunlich interessant. Über Mailin erfährt man nur aus Liss‘ Erinnerungen und aus den Dingen, die Dritte über sie erzählen. Liss hingegen ist mir zwar nicht sympathisch mit ihren Stimmungsschwankungen, ihrem Drogenkonsum und ihrer Gedankenlosigkeit, aber Torkil Damhaug hat es geschafft, dass ich all diese Elemente als stimmig empfand. Auch die Tatsache, dass Liss keine bewussten Kindheitserinnerungen hat, dafür aber immer wieder seltsame Träume, in denen sie Mailin vor etwas beschützt, hat mich neugierig auf die Vergangenheit der beiden Frauen gemacht.
Außerdem empfand ich die Polizisten und die Pathologin – so selten sie vorkamen – als angenehm normal. Der eine Polizist hatte zwar noch irgendwelche Probleme, die ich aufgrund der Unkenntnis des anderen Romans von Torkil Damhaug nicht richtig einordnen konnte. Der zweite Polizist war geschieden und hatte ein Verhältnis mit einer älteren Kollegin und auch die Pathologin war ihrem Mann nicht gerade treu, aber das belastete die Figuren nicht besonders, sondern war einfach Teil ihres derzeitigen Lebens. Einzig die Tatsache, dass der Informationsfluss durch die privaten Beziehungen manchmal ungewöhnliche Wege nahm, führte zu Missstimmungen innerhalb des Teams, aber so groß wurde das auch nicht thematisiert. Und ich finde es erfrischend, einmal einen skandinavischen Krimi in die Finger zu bekommen, bei dem auf Seiten der Polizei keine großen Dramen präsentiert werden.
Somit ist mir nun nach deiner Rezi klar, dass ich das zweite Buch von Torkil Damhaug NICHT lesen werde. Ich habe "Die Bärenkralle" gelesen und da ging e smir schon ähnlich wi dir. So hat sich der Autor nicht wirklich etwas Neues einfallen lassen!
Liebe Grüße
Martina
Gut zu wissen, dass er bei "Die Bärenkralle" genauso vorging. Ein bisschen neugierig war ich schon, ob sein Debüt besser wäre. 🙂 Aber um einen Roman nach dem gleichen Schema zu lesen, fand ich diesen jetzt nicht befriedigend genug.