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Emma Hooper: Etta und Otto und Russell und James

„Etta und Otto und Russell und James“ von Emma Hooper ist eine Zufallsentdeckung in der Bibliothek gewesen. Eigentlich hatte ich den Roman nur in die Hand genommen, um herauszufinden, ob er ein Jugendbuch ist oder nicht, da ich das Cover in der Beziehung etwas verwirrend fand – und dann bin ich nach dem ersten kurzem Anlesen hängen geblieben. Die Geschichte wird von der Autorin in einer ungewöhnlichen Form erzählt, so springt sie nicht nur von Perspektive zu Perspektive, sondern auch in der Zeit. Dabei verwendet sie eine stellenweise sehr schlichte und dann wieder überraschend poetische Sprache und lässt viele Elemente der Handlung ohne weitere Erklärung im Raum stehen, damit der Leser sich selbst ein Bild von den Ereignissen und den Figuren machen kann.

Der Roman beginnt damit, dass sich die 83jährige Etta auf den Weg zum Meer macht. Ihrem Ehemann Otto hinterlässt sie einen Brief, in dem sie ihn von ihrer Absicht unterrichtet, einen Stapel mit Rezeptkarten, damit er sich in ihrer Abwesenheit etwas kochen kann, und den Laster, während sie die über 3000 Kilometer bis zum Meer zu Fuß gehen will. Kurz überlegt Otto, ob er ihr hinterherfahren soll, beschließt dann aber, dass er Etta ihren Wille lassen wird. Vor vielen Jahren war er es, der wegfuhr und sie allein zurückließ, nun ist er an der Reihe, auf sie zu warten. Ihr Nachbar Russell hingegen kann nicht verstehen, dass Otto Etta einfach ziehen lässt. Deshalb verlässt er zum ersten Mal, seitdem er sie als junger Mann übernommen hat, seine Farm, um sich auf die Suche nach Etta zu machen.

Emma Hooper erzählt die Geschichte vor allem aus Ettas und Ottos Perspektive, wobei Russell in ihrer beider Leben immer eine große Rolle spielte. So erfährt man als Leser in kleinen und größeren Bruchstücken, wie die Kindheit der drei Personen war, wie sie aufwuchsen, wie der zweite Weltkrieg ihr Leben beeinflusste, wie Liebe und Freundschaft ihr Leben prägten und wie sich ihr Verhältnis im Laufe der Zeit immer wieder verändert hat und doch eine feste Konstante in ihrem Leben darstellte. Sehr schön gelingt es der Autorin dabei, zu zeigen, wie Etta inzwischen von Demenz beeinflusst wird. Sie erlebt auf ihrer Wanderung gute und schlechte Tage, Momente, in denen sie anderen Ratschläge geben kann und in denen sie mühelos für sich selbst sorgt, und dann wieder Phasen, in denen sie nicht mehr weiß, wer sie ist und in denen die Erlebnisse, von denen Otto ihr erzählt hat, ihre eigenen Erinnerungen überlagern. Außerdem gibt es da den Kojoten James, dem sie während ihrer Wanderung begegnet und mit dem sie im Laufe der Tage intensive Gespräche führt. Etwas gewöhnungsbedürftig ist es dabei schon, dass der Kojote Etta antwortet – interpretieren kann der Leser dabei diese Dialoge, wie er will, da die Autorin keine Erklärung für James anbietet.

Die Kindheitserinnerungen von Otto und Russell sind geprägt von den Härten der Natur in Saskatchewan, wo eine Trockenperiode dazu führte, dass die Landwirtschaft brachlag und viele ihre Farmen in den 1930er Jahren aufgeben mussten. So ist Ottos Familie arm und kinderreich, und er und seine Geschwister wechseln sich mit dem Schulbesuch ab, damit immer genügend Kinder zuhause sind, um die anfallende Arbeit zu verrichten. Doch trotz aller Herausforderungen scheint es eine glückliche Kindheit gewesen zu sein, in der man sich umeinander kümmerte, trotz all der Verpflichtungen Zeit zum Spielen hatte und trotz des Nahrungsmittelknappheit ein unerwarteter weitere Esser Platz am Tisch fand. Ich muss gestehen, dass ich diese Kindheitserinnerungen wirklich faszinierend fand und sich mir kleine Informationen aus Nebensätze tief eingeprägt haben. So war es zum Beispiel nötig, dass man den Kühen regelmäßig Augentropfen verabreichte, weil sonst der umherwehende Sand zu Entzündungen geführt hätte. Ein Teil von mir findet die Vorstellung, dass man Nutztiere in einem so unwirtlichen Gebiet hält, wirklich irritierend, während ein anderer Teil die Hartnäckigkeit, mit der die Farmer durchhielten und gegen die widrigen Umstände ankämpften, bewundert.

Diese Akzeptanz des Unausweichlichen, die ich bei den Farmern und ihren Tieren fand, durchzieht eigentlich die ganze Geschichte. Es ist – auch wenn nicht darüber geredet wird – selbstverständlich, dass Russell und Otto Etta lieben, es ist ganz natürlich, dass Etta alt und dement ist und vor allem ist das kein Grund, sie an ihrem Vorhaben zu hindern. Auch wenn es für Otto schwer ist, dass er sie ziehen lassen muss, und obwohl er sich die ganze Zeit Sorgen und Gedanken macht, so akzeptiert er, dass das etwas ist, was sie tun muss, solange sie noch dazu in der Lage ist. Ich fand die Liebe zwischen diesen drei Charakteren herzzerbrechend wunderbar. Es gibt ein paar Rezensionen, in denen behauptet wird, dass Otto Etta gar nicht lieben würde, aber für mich ist seine Liebe zu ihr in jeder Geste, in jeder Erinnerung sehr präsent. Ihm ist eben bewusst, dass seine Liebe ihm kein Recht gibt, sie aufzuhalten, und wenn das bedeutet, dass er kaum noch essen und schlafen kann, dann ist das sein Problem. Es ist sehr schwierig zu beschreiben, was diese Geschichte in mir ausgelöst hat. Ich fand sie auf jeden Fall wunderbar zu lesen, mochte die Charaktere in all ihren Facetten und kann auch gut mit dem „offenen“ Ende leben, das für jeden Leser eine eigene Interpretation der Ereignisse zulässt. Ich bin mit meiner Variante davon, wie Ettas Reise endete, vermutlich zufriedener, als ich es mit einem von Emma Hooper vorgegebenen Happy End gewesen wäre.