„Ich, Eleanor Oliphant“ von Gail Honeyman gehört zu den Büchern, die ich im vergangenen Jahr so oft in meiner Timeline gesehen habe, dass ich sie schon nicht mehr sehen konnte. Auch die Inhaltsangabe hat mich nicht gereizt, ebensowenig wie all die begeisterten Rezensionen. Aber ich muss zugeben, dass ich trotz all der gelesenen Rezensionen die ganze Zeit der Meinung war, dass es sich bei dem Titel um ein Jugendbuch handelt, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieses Thema eine gute Geschichte für Jugendliche bereithalten würde. Ich war mir also gut ein Jahr lang ganz sicher, dass ich das Buch nicht lesen würde, bis ich mich vor einer Woche dabei ertappte, dass ich den Ausleih-Button in der Onleihe anklickte. Ich habe keine Ahnung, was mich dazu gebracht hat, aber nachdem ich den Roman schon auf dem Reader hatte, konnte ich ihn ja auch gleich mal lesen.
Gail Honeyman hat mit Eleanor Oliphant eine Protagonistin geschaffen, die ein sehr einsames Leben führt. Sie arbeitet von Montag bis Freitag als Buchhalterin und hat bei der Arbeit kaum Kontakt zu den Kollegen, weil Eleanor mit deren Interessen und deren Verhalten wenig anfangen kann. Wenn Freitagabend dann der Wochenendeinkauf erledigt ist, vergräbt sich Eleanor mit einem ausreichenden Vorrat an Alkohol in ihrer Wohnung und versucht, irgendwie das einsame Wochenende zu überstehen. Obwohl Eleanor sich einzureden versucht, dass ihr Leben gar nicht so übel ist, wird von der ersten Seite an deutlich, dass sie unglücklich ist und dass sie keine Ahnung hat, wie sie ihre Situation ändern soll. Erst eine Schwärmerei für einen Musiker und die Bekanntschaft mit dem neuen Arbeitskollegen Raymond rütteln die einsame Frau so weit auf, dass sie sich vorsichtig an die eine oder andere Veränderung wagt.
Ich fand es etwas schade, dass die Autorin Eleanors Veränderungen damit anfangen ließ, dass sie zum Friseur geht und neue Kleidung kauft. Aber auf der anderen Seite sind das natürlich auch die Dinge, die sich am leichtesten ändern lassen und die von der Außenwelt am ehesten wahrgenommen werden, also konnte ich damit leben. Obwohl Eleanor sehr intelligent ist, ist sie doch auch sehr naiv, und das bringt sie immer wieder in Situationen, mit denen sie nicht so recht umgehen kann. Schon früh wird in dem Roman gesagt, dass Eleanor einen Großteil ihrer Kindheit in Pflegefamilien und Heimen verbracht hat, aber wie wenig sie in dieser Zeit über den Umgang mit anderen Menschen gelernt hat, wird erst im Laufe der Geschichte deutlich. So fand ich es nicht überraschend, dass Eleanor keine Ahnung hat, wie man sich verhält, wenn man zu einer Geburtstagsfeier eingeladen wird, wie man Small Talk betreibt oder überhaupt mit anderen Menschen auf privater Ebene Kontakt hat.
Für den Leser ist sehr früh offensichtlich, was in Eleanors Kindheit passiert ist, ebenso wie man sich schon nach den ersten Kapiteln denken kann, wie ihre bislang einzige Beziehung verlaufen ist. So entsteht die Spannung beim Lesen weniger durch die Frage nach Eleanors Kindheit, sondern eher durch die Frage wie es der Protagonistin, die bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr all diese Erlebnisse verdängt hat, gelingen wird, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und etwas gegen ihre Einsamkeit zu unternehmen. Dabei erlebt man die Geschichte aus Eleanors Perspektive inklusive all ihrer Fehlinterpretationen des Verhaltens anderer Menschen, ihrer diversen Schutzmechanismen und ihrer verächtlichen Gedanken gegenüber ihren Mitmenschen. Das wäre unangenehm zu lesen, wenn es nicht immer wieder diese Momente gäbe, in denen Eleanor zeigt, dass sie auch eine andere Seite hat, dass sie ihre abwertenden (und durch die Erziehung ihrer Mutter verursachten) Gedanken selbst unschön findet und doch eigentlich gern anders auf ihre Umgebung zugehen würde.
Eine große Hilfe findet Eleanor in ihrem neuen Arbeitskollegen Raymond, der ein netter und gutmütiger Mensch ist und dessen selbstverständliche Hilfsbereitschaft dazu führt, dass er sich mit Eleanor anfreundet. Er gibt Eleanor immer wieder (wenn auch häufig unbewusst) kleine Anstöße, um sich in unvertraute Situationen zu begeben, mit anderen Menschen zu treffen oder sich um jemanden zu kümmern, obwohl sie keine Ahnung hat, wie sie das überhaupt tun soll. Es dauert eine ganze Weile, bis Raymond versteht, wie hilflos Eleanor in privaten Situationen ist, die für die meisten anderen Menschen zum Alltag gehören, und das finde ich ebenso stimmig wie Eleanors intensive Konzentration auf jeden neuen Menschen und jedes neue Thema, das sie beschäftigt. Raymond muss sich keine Gedanken um viele Dinge machen, weil sie für ihn zum normalen Leben dazugehören, während Eleanor, die so lange in ihrer Einsamkeit gefangen war, voller Aufregung und Unsicherheit die schönen Seiten ausschmückt und auskostet und alles tut, um so perfekt wie möglich auf eine bevorstehende unvertraute Situation vorbereitet zu sein.
Diese Elemente sind es, die ich an dieser Geschichte wirklich gemocht habe. Ich fand es stimmig, dass Raymond sich so wenig Gedanken gemacht hat, ich konnte Eleanors Unsicherheiten nachvollziehen und habe mich darüber amüsiert, wie sie versucht, zielstrebig und effektiv Wege zu finden, um mit neuen Situationen umzugehen. Ebenso fand ich es richtig, dass sich nicht von einem Tag auf den anderen etwas an Eleanors Arbeitsplatz ändert. Natürlich bemerken ihre Kollegen, dass Eleanor sich verändert, aber es entstehen nicht auf einmal Freundschaften, die nach der jahrelangen Distanz unnatürlich gewesen wären. Auch Eleanor ist am Ende des Buches nicht ein vollkommen neuer Mensch, aber sie ist ein bisschen weniger einsam, sie lernt, mit ihrer Vergangenheit umzugehen, und als Leser fand ich es schön zu sehen, wie weit sie sich im Laufe der Geschichte entwickelt hat.