Eine kleine Warnung vorweg: Wer zu einem Jugendbuch greift, weil er ein garantiertes Happy End für alle Charaktere lesen möchte, der sollte von „Hold Back the Tide“ vielleicht die Finger lassen. Allen anderen Lesern hingegen würde ich diese wirklich sehr gut geschriebene Horror-Geschichte von der Autorin Melinda Salisbury sehr ans Herz legen. Die Handlung wird erzählt aus der Sicht von Alva, die gemeinsam mit ihrem Vater in einem kleinen Ort in den schottischen Bergen lebt. Von Anfang an wird man von Alva darüber informiert, dass ihr Vater vor sieben Jahren ihre Mutter umgebracht hat, als das Mädchen mitten in der Nacht von lauten Stimmen und dem Geräusch von Schüssen und klirrendem Glas aufwachte. Aber da nie eine Leiche gefunden wurde, geht ihr Vater weiterhin unbehelligt seiner Aufgabe als Hüter des örtlichen Lochs nach, während die Dorfbewohner die kleine Familie so weit wie möglich schneiden.
Ebenso steht von Anfang an fest, dass Alva in den vergangenen Jahren alles getan hat, um eine Flucht aus ihren Heimatort vorzubereiten, und nun endlich hat sie Geld und die notwendige Ausrüstung für eine längere Reise beisammen und einen Arbeitsplatz in einer weiter entfernt liegenden Stadt in Aussicht. Alles, was sie noch organisieren muss, ist eine Reisemöglichkeit, die sie schnell genug aus dem Dorf entfernt, damit ihr Vater sie nicht wieder zurückholen kann. Doch bevor Alva ihre Flucht antreten kann, passieren unerwartete und unheimliche Dinge im Ort, und in der jungen Frau keimt der Verdacht auf, dass das radikale Sinken des Pegels des Lochs eine der Ursachen für all die Veränderungen sein könnte. Mehr möchte ich gar nicht zum Inhalt dieser Geschichte sagen, denn ich finde, man sollte sich möglichst unvoreingenommen auf Alva, ihre Erzählweise und ihre Erlebnisse einlassen, um die Handlung rundum genießen zu können.
Einige Entwicklungen kann man in „Hold Back the Tide“ zwar schon recht früh vorhersehen, aber das stört überhaupt nicht, weil die Figuren und die Atmosphäre in dieser Geschichte einen wirklich gefangen nehmen. Dieses abgeschiedene Dorf inmitten der schottischen Berge ist die perfekte Kulisse für einen solchen Horrorroman, und die Monster, die im Laufe der Handlung auftauchen, werden durch ihre Verbindung zum Loch zu einer ganz eigenen und ungewöhnlichen Variante eines bekannten Monstertypus. Ich mochte auch die verschiedenen Charaktere, die man im Laufe der Handlung kennenlernt, sehr gern. Die Protagonistin Alva ist zwar stellenweise fast ein bisschen zu fähig und zu gut (ebenso wie einer der anderen jugendlichen Dorfbewohner), aber sie hat trotzdem genügend Schwächen und Fehler, um eine überzeugende Erzählerin zu sein.
Obwohl das eBook nur 218 Seiten lang ist, hatte ich das Gefühl, dass sich Melinda Salisbury einige Zeit lässt, um ihre Geschichte aufzubauen, und erst nach und nach die verschiedenen Entdeckungen und unheimlichen Vorfälle einbringt. Für mich hat das vor allem dafür gesorgt, dass ich – wann immer ich das Buch aus der Hand legen musste – mit meinen Gedanken immer wieder zu Alva und den Ereignissen in ihrem Heimatort geschweift bin. Ich mag es sehr, wenn mich eine Geschichte nicht so recht loslässt und ich immer wieder dahin zurückkehre. Außerdem fand ich (als jemand, der selten zu Horrorgeschichten greift,) die Darstellung der Kreaturen aus dem Loch ausgewogen genug, dass ich um Alva und all die anderen Charaktere zwar gebangt, aber dieses Unbehagen nicht mit in meinen Alltag genommen habe. Wer also mit dem Wissen leben kann, dass die Geschichte nicht für alle Beteiligten gut ausgeht, und Lust auf einen ruhig erzählten und atmosphärischen Horrorroman hat, der (vermutlich) Ende des 19. Jahrhunderts in der Abgeschiedenheit schottischer Berge spielt und gut geschriebene, stimmige Charaktere aufzuweisen hat, der sollte definitiv einen Versuch mit „Hold Back the Tide“ wagen.