Das Sachbuch „Städte für Menschen“ von Jan Gehl beschäftigt sich damit, dass heutige Städte in der Regel von den darin lebenden Menschen nicht in dem Rahmen genutzt werden können, in dem sie genutzt werden sollten. Je mehr Stadtteile veröden, je weniger die Bewohner die öffentlichen Räume nutzen, desto mehr vereinsamen die Menschen, haben Angst, sich durch die Stadt zu bewegen, und letztendlich steigt dadurch sogar die Kriminalitätsrate. Abgesehen von diesem „menschlichen“ Faktor gibt es einen unübersehbaren Umweltaspekt, der in den vergangenen Jahrzehnten bei der Gestaltung von Städten sträflich vernachlässigt wurde, indem die gesamte Stadtplanung rund um den Autoverkehr aufgebaut wurde, statt auf den Menschen, der doch eigentlich die Straßen, Plätze und Gebäude nutzen soll.
Persönlich finde ich es spannend, dass Jan Gehl ganz klassisch Architektur studiert und in dem Bereich gearbeitet hat und erst durch seine Heirat mit einer Psychologin anfing, darüber nachzudenken, was Architektur für Menschen bedeutet und wie wichtig es ist, dass nicht die Form im Vordergrund der Planung steht, sondern der Mensch. In den letzten Jahrzehnten hat er sich dann einen Namen damit gemacht, dass er menschliche Konzepte zur Stadtplanung entwirft. So ist er mitverantwortlich für die vielgepriesene Stadtplanung von Kopenhagen und hat unter anderem die New Yorker Stadtverwaltung in den letzten Jahren bei der Planung von Radwegen und verkehrsberuhigten Zonen beraten.
„Städte für Menschen“ erzählt dem Leser gar nicht so viel Neues (selbst wenn man nicht in der Vergangenheit Innenarchitektur studiert hat), macht einem aber viele Verhaltensweisen und Empfindungen bewusst. So fühlen sich die meisten Menschen unwohl, wenn sie über einen unübersichtlich großen und leeren Platz gehen sollen, wenn sie nachts durch eine schlecht beleuchtete oder gar unbelebte Straße gehen müssen oder wenn sie an einer exponierten Stelle auf einer unbequemen Bank sitzen sollen. Es ist nun einmal so, dass man sich wohler fühlt, wenn man den Eindruck hat, dass andere Menschen in der Nähe sind, wenn man beleuchtete Wohnungen sieht oder z. B. durch eine Wand im Rücken vor Wind und Blicken „geschützt“ wird, während man einen schönen Ausblick genießt. All dies ist einem zumindest unbewusst vertraut, und man erlebt viele der erwähnten Situationen immer wieder im Alltag . So führt das Lesen dieses Buches dazu, dass man sich weniger fragt, wie eine Stadt „menschlicher“ gestaltet werden kann, sondern warum all diese einfachen Regeln in den vergangenen Jahrzehnten so selten angewandt wurden.
Aber nicht nur der „Wohlfühlfaktor“ ist ein großes Thema von Jan Gehl, sondern auch die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer und die Umwelt- und Lärmverschmutzung durch den Autoverkehr. Spannend fand ich die Erfahrungen, die z. B. in San Francisco gemacht wurden, wenn es um die Nutzung von Straßen ging. Da wurde nach einem Erdbeben eine der Hauptzufahrtsstraßen der Stadt gesperrt, und während die Stadt noch die Erneuerung der Straße plante, mussten die Verantwortlichen feststellen, dass diese Straße gar nicht notwendig war, denn die früheren Nutzer hatten sich schon andere Wege in die Stadt gesucht – während die stillgelegte Straße stattdessen von den Anwohnern für sportliche, kommunikative und künstlerische Tätigkeiten genutzt wurde.
Auch die Erfahrungen, die Jan Gehl in den vergangenen Jahrzehnten in Kopenhagen gemacht hat, zeigen, dass die Menschen recht flexibel sind, wenn es darum geht, ihre Arbeitsplätze zu erreichen, ihren Freizeitaktivitäten nachzugehen und ihre Einkäufe zu erledigen. Allerdings ist der Mensch von Natur aus auch recht faul, so dass man ihm erst einmal einen Anstoß geben muss, um über Alternativen zum Auto nachzudenken. Wenn aber erst einmal die Wege für Fahrradfahrer und Fußgänger attraktiver gemacht wurden (z. B. durch gut ausgebaute Radwegsysteme, erweiterte Angebote durch den Nahverkehr und eine größere Sicherheit etwa durch eine „Zurückstufung“ der Autos in der Priorität bei Ampelschaltungen), dann ändert der Mensch recht schnell seine Gewohnheiten. Sehr cool finde ich es z. B., dass in Kopenhagen ein Taxi nur dann zugelassen wird, wenn es einen Fahrradträger am Fahrzeug hat. Das wäre in Deutschland kaum denkbar …
Manchmal sind es wirklich nur kleine Veränderungen, die eine Stadt sehr viel sicherer für Fußgänger und Radfahrer werden lassen. Während in Deutschland von einer Häuserwand aus gesehen erst ein Bürgersteig, dann ein Streifen für parkende Autos, dann ein Radweg und zuletzt die Fahrbahn für Autos kommt, was immer wieder zu Konflikten zwischen Rad- und Autofahrern führt, werden in Kopenhagen die Radwege zwischen Bürgersteig und Parkstreifen platziert. So gibt es durch die parkenden Autos eine Pufferzone zwischen Radfahrern und Autofahrern, ohne dass die Stadt mehr Platz für die eine oder andere Form von Verkehr einplanen muss. Dass dort trotzdem deutlich mehr Fläche für Fuß- und Fahrradwege eingeplant wird als in vergleichbaren Großstädten, ist wiederum ein anderes Thema und hängt damit zusammen, dass allgemein der Autoverkehr in der Stadt verringert werden soll.
Stellenweise wiederholt sich Jan Gehl in diesem Buch, was damit zusammenhängt, dass eben bestimmte Regeln und Untersuchungsergebnisse auch auf verschiedene Aspekte des Städtebaus angewandt werden können. Außerdem muss ich gestehen, dass ich eines seiner Standardbeispiele für einen alten, perfekt geplanten Platz (den Campo in Siena) persönlich nicht so perfekt finde, aber das kann damit zusammenhängen, dass ich diesen Ort immer nur gesehen habe, wenn ich genervt war von meinen Mitreisenden, von der Hitze und der Tatsache, dass es keinen Schattenplatz gab, der nicht schon von anderen Menschen belegt war. 😉 Ansonsten gibt es am Ende des Buches noch einmal konzentriert die Bildbeispiele als Erinnerungshilfe und „Werkzeug“ für eine aktive und bewusste Stadtplanung. Ich fand „Städte für Menschen“ wirklich interessant, hat mir das Buch doch einige Dinge bewusst vor Augen geführt, die ich sonst eher intuitiv wahrnehme. Ich würde den Titel gern so einigen Leuten in die Hand drücken – allen voran den Stadtplanern meines aktuellen Wohnortes und einigen Professoren, die mir im Studium beibringen wollten, dass die Form eines Gebäudes wichtiger sei als seine Funktionalität.