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Lynda Mullaly Hunt: Wie ein Fisch im Baum

Über „Wie ein Fisch im Baum“ von Lynda Mullaly Hunt bin ich bei Tine gestolpert, die von dem Roman sehr angetan war, und so habe habe mir dann den Titel über die Onleihe besorgt. Die Geschichte wird aus der Sicht der elfjährigen Ally Nickerson erzählt, deren Leben davon geprägt ist, dass sie nicht lesen und schreiben kann. Dass das Mädchen in den vergangenen sieben Jahren sieben verschiedene Schulen besucht hat, macht die Sache nicht leichter, und dass Allys Lehrer denken, dass sie aufsässig ist und sich nur mehr Mühe geben muss, erst recht nicht. Denn jedem – außer Ally – ist eigentlich bewusst, dass sie nicht dumm ist. Sie ist schlagfertig, sie kann gut mit Zahlen umgehen und logisch denken. Sie hat ein besonderes Talent zum Zeichnen und beobachtet aufmerksam ihre Umgebung. Nur im Unterricht versucht sie, sich unsichtbar zu machen, und hat diverse Strategien entwickelt, damit sie nicht ständig offenbaren muss, wie schlecht sie im Lesen und Schreiben ist.

Diese ständigen Bemühungen, unsichtbar zu bleiben, sorgen auch dafür, dass Ally keine Freunde hat, obwohl sie in ihrer Klasse die eine oder andere Person sympathisch findet. Nicht einmal nach Schulschluss fühlt sich Ally richtig frei, denn dann muss sie in dem Restaurant, in dem ihre Mutter kellnert, an der Theke sitzen und Hausarbeiten machen – und aufpassen, dass niemand sie dabei erwischt, dass sie stattdessen lieber zeichnet. Richtig glücklich scheint sie nur zu sein, wenn sie Dinge mit ihrem großen Bruder Travis unternehmen kann. Travis liebt alles, was mechanisch ist, und urteilt nicht über Allys Probleme, aber so gut das Verhältnis zwischen den beiden auch ist, so reicht das doch nicht aus, um Ally durch ihren Schulalltag zu bringen. So kämpft sie sich jeden Tag durch viele Stunden, in denen sie – obwohl sie so gern für alle unsichtbar bleiben würde – immer wieder aufgefordert wird, etwas zu lesen oder zu schreiben. Um nicht immer wieder vor der gesamten Klasse zu scheitern, stellt Ally dann lieber etwas an, das den Unterricht so sehr behindert, dass sie zur Direktorin geschickt wird, um sich einen Tadel für ihr Benehmen abzuholen.

Erst als mit Mr. Daniels ein neuer Lehrer Allys Klasse übernimmt, ändert sich Schritt für Schritt Allys Leben. Mr. Daniels nimmt sich Zeit, um auf die individuellen Persönlichkeiten seiner Schüler einzugehen, und versucht gemeinsam mit ihnen an ihren Problemen zu arbeiten, ohne sie vor ihren Mitschülern bloßzustellen. Dabei braucht auch er Zeit, um überhaupt herauszufinden, was mit Ally los ist und wie er ihr helfen kann, besser zurechtzukommen. Ich mochte es sehr, wie Lynda Mullaly Hunt Mr. Daniels dargestellt hat. Er ist nett und aufmerksam und versucht all seinen Schülern Selbstbewusstsein und ein Gefühl für die eigenen Stärken mitzugeben. Dabei ist er nicht unfehlbar, sondern sorgt auch schon mal unabsichtlich dafür, dass sich Ally schlecht fühlt oder dass eine unangenehme Situation in der Klasse ausartet, obwohl sie hätte vermieden werden können.

Überhaupt beweist die Autorin ein wunderbares Händchen für Figuren. Nicht nur Ally, sondern auch die vielen Nebenfiguren können durch vielschichtige Charaktere überzeugen. Ich habe die diversen Eigenheiten von Allys Mitschülern sehr genossen, wenn zum Beispiel Albert mal wieder einen wissenschaftlichen Vortrag gehalten hat, wenn Keisha sich für jemanden oder etwas eingesetzt hat, wenn Oliver mal durch die Gegend hüpfte oder Suki von ihrem japanischen Großvater erzählte. Natürlich gibt es auch einige unangenehme Personen in Allys Umfeld, aber auch bei denen schimmert hier und da eine menschliche Seite oder ein Grund für ihr Verhalten durch. Vor allem zeigt Lynda Mullaly Hunt mit den vielen verschiedenen Figuren, dass Ally nicht die einzige ist, die im Alltag Probleme hat. So lernt Ally im Laufe der Geschichte nicht nur, mit ihren eigenen Schwächen umzugehen, sondern auch, dass sie in der Lage ist, anderen beizustehen, wenn diese mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben.

Die gesamte Geschichte wird dabei von der Autorin in einer einfachen, aber wunderbar bildreichen Sprache erzählt. Für Ally ist es natürlich, sich Dinge zu merken, wenn sie dazu Bilder oder Filme in ihrem Kopf abspeichert, und so verarbeitet sie auch viele Szenen in ihrem Alltag, indem sie sie in solche bildhaften Elemente umsetzt. So hatte ich beim Lesen nicht nur viel Spaß mit den vielen Bildern und Filmen in Allys Kopf, sondern es hat mir auch geholfen zu verstehen, wie Ally die Welt wahrnimmt und welche Herausforderung das Lesen für sie mitbringt. Obwohl das Leben für Ally nicht einfach ist und es dementsprechend die eine oder andere Szene in diesem Roman gibt, die einen beim Lesen wütend oder traurig macht, ist „Wie ein Fisch im Baum“ eine überraschend lustige Geschichte. Ally ist witzig und schlagfertig und selbst in ihrer Verzweiflung hat sie sich immer wieder Sachen ausgemalt, die mich zum Schmunzeln gebracht haben. Ich habe die Geschichte wirklich gern gelesen (und prompt „Ich hab mich nie so leicht gefühlt“, den Debütroman der Autorin, auch noch auf meine Merkliste in der Bibliothek gesetzt).