Mila und ihre 100-Bücher-Liste haben mich auf diesen Titel gebracht, und ich bin wirklich froh darüber, auch wenn die 2000 Seiten manchmal eine Herausforderung waren. Ohne Milas liebevolle Beschreibung von Mrs. Rupa Mehra und ihrer Familie hätte ich vermutlich gar nicht mit „Eine gute Partie“ angefangen, und dann hätte ich nicht nur viel Wissenswertes über Indien, sondern auch eine Menge liebenswerter, ehrbarer, verzweifelter, hilfsbereiter und egozentrischer Figuren verpasst. Oh, und noch ein Tipp für das Lesen eines so umfangreichen Romans: Ich habe mir täglich kleine Portionen vorgenommen, und da die Geschichte in viele Unterkapitel unterteilt ist, klappte das so wirklich gut. Allerdings sollte man zwischen den einzelnen Abschnitten nicht zu viel Zeit verstreichen lassen, weil es sonst irgendwann schwierig wird, die vielen Personen in allen Details auseinanderzuhalten.
Vikram Seth erzählt in „Eine gute Partie“ die Geschichte von vier miteinander verbundenen Familien, wobei das Hauptthema Mrs. Rupa Mehras Versuche sind, ihre neunzehnjährige Tochter Lata mit einem passenden Mann zu verheiraten. Dabei zeichnet der Autor ein detailliertes Bild von der indischen Gesellschaft in den Jahren 1951/52. Indien ist gerade mal seit vier Jahren unabhängig und leidet unter der Abspaltung Pakistans. Während Konflikte zwischen den verschiedenen Religionen schwelen und ein neues Gesetz eine Landreform einleiten soll, schwankt bereits die junge indische Demokratie aufgrund von kurzsichtigen oder bestechlichen Politiker, von Idealen, die in der Realität nicht bestehen können, und vor allem aufgrund von sozialer Ungerechtigkeit in diesem überbevölkerten Land.
Vor diesem Hintergrund kann der Leser die großen und kleinen Wendungen im Leben der verschiedensten Personen verfolgen. Die bereits erwähnte Mrs. Rupa Mehra und ihre Tochter Lata haben zum Beispiel sehr persönliche Probleme. Während die Mutter für ihre Tochter eine gute Partie sucht, möchte Lata die Wahl haben, ob und wen sie heiratet. Sie ist noch mitten in ihrem Studium und sperrt sich gegen den liebevollen (und sehr aufdringlichen) Einfluss ihrer Mutter – auch wenn sie anhand ihrer älteren Schwester Savita und ihrem Mann Pran sieht, dass so eine arrangierte Ehe auch sehr liebevoll sein kann. Prans Vater Maresh Kapoor hingegen beschäftigt sich mit der großen Politik. Er ist federführend für die geplante Enteignung der Großgrundbesitzer verantwortlich und versucht so gerechtere Eigentumsverhältnisse in Indien einzuführen, auch wenn das zum Beispiel bedeuten würde, dass einer seiner besten Freunde – der Moslem Nawab Sahib – einen Großteil seines Besitzes verlieren würde.
Ich muss gestehen, dass ich die politischen Aspekte der Geschichte (die erst gegen Ende wirkliche Tragweite bekommen, wenn man schon so in der Handlung drin ist, dass auch längere Beschreibungen von Gesetzesdiskussionen einen nicht rausreißen) deutlich fesselnder fand, als ich erwartet hatte. Vikram Seth hat ein Händchen dafür, die landesweiten Ereignisse mit den kleinen persönlichen Schicksalen zu verknüpfen, so dass es einfach spannend wird. So wird der Tunichtgut Maan Kapoor aufgrund seiner einnehmenden Persönlichkeit in den Wahlkampf seines Vaters Maresh gezogen und bekommt auf diese Weise hautnah mit, welche verheerende Folgen die sozialistischen Ideale seines Freundes Rasheed auf die Ärmsten in seinem Heimatdorf haben.
Die allgemein aufgeheizte Stimmung (und die Tatsache, dass die Hindus eine Mehrheit im Parlament haben) führt auch immer wieder zu Zwischenfällen auf den Straßen der fiktiven Stadt Brahmpur, bei denen Mitglieder der vier Familien in Gefahr geraten oder sogar einen andersgläubigen Freund vor einem unkontrollierbaren Mob retten müssen. Gerade weil in diesem Roman – trotz der einen oder anderen großen Katastrophe – eher die kleinen Begebenheiten und Schicksalsschläge erzählt werden, finde ich ihn so reizvoll. Zu lesen, dass bei einer religiösen Feierlichkeit hunderte Pilger getötet und verletzt werden, ist erschütternd, aber viel eindrucksvoller ist der Moment, in dem eine junge Mutter spürt, wie ihr in der hysterischen Menge die Hand ihres neunjährigen Sohns entgleitet.
So habe ich 2000 Seiten lang über die Ereignisse, die die Familien Mehra, Kapoor, Khan, Chatterji und ihre Freunde erleben, geschmunzelt, den Kopf geschüttelt und sogar ein paar Tränchen verdrückt. Ich wollte Lata in ihrer ersten Verliebtheit ermutigen, Maan zur Vernunft bringen, seinen Freund Firoz vor einem Unglück bewahren und Latas älteren Bruder regelmäßig schütteln, weil mir seine Arroganz so auf die Nerven fiel. Ich fühlte mich als ein Teil dieser Familien, wollte ihnen Ratschläge erteilen und die freudigen Momente mit ihnen feiern. Und auch wenn ich nur wenige Monate ihres Lebens ganze 2000 Seiten mit ihnen verbracht habe, so habe ich „Eine gute Partie“ am Ende mit großem Bedauern zugeklappt. Diese Charaktere sind für mich während der Tage, in denen ich diesen Roman gelesen habe, erstaunlich real geworden und selbst die, die mir nicht sympathisch geworden sind, lassen mich auch im Nachhinein nicht gleichgültig.
Ich bin mir sicher, dass „Eine gute Partie“ – allein schon aufgrund des Umfangs – nicht für jeden Leser geeignet ist. Aber wer sich gern einmal kopfüber in eine andere Zeit und Kultur stürzen möchte, wer die kleinen und großen Ereignisse im Leben vierer liebenswerter Familien verfolgen mag und wer so wie ich eine Schwäche für indische Romane hat, der soll auf jeden Fall einen Versuch wagen. Wenn man jeden Tag um die hundert Seiten liest, dann ist diese Geschichte viel zu schnell vorbei. Ich hoffe sehr, dass Vikram Seth nach „Eine gute Partie (A Suitable Boy)“ wirklich im Jahr 2013 wie angekündigt die Fortsetzung „A Suitable Girl“ veröffentlicht und dass das Buch dann auch in Deutschland erscheinen wird. Ich würde wirklich gern wieder von Lata und ihren Angehörigen und Freunden lesen und mitverfolgen, wie sie diesmal diejenige ist, die eine passende Partie für ihren Enkel sucht …
Eine Sache noch zur Sprache und Erzählweise: Dieser Roman ist nicht nur, was den Umfang angeht, sondern auch in Bezug auf die Erzählweise sehr üppig. Gerade die etwas emotionaleren Charaktere können sich seitenweise in einem Gespräch über ihre Gefühle auslassen, die Sprache ist blumig, überbordend und doch genau richtig für die Atmosphäre. Ich finde es ja immer wieder faszinierend, dass mir einige Länder sprachlich so viel näher liegen als andere. Bei indischen Romanen stören mich die blumigen Umschreibungen so gar nicht, weil ich das Gefühl habe, dass die Kernaussage immer noch sehr direkt zum Ausdruck gebracht – und der Rest nicht ohne eine gewisse (Selbst-)Ironie formuliert wird. Mit französischen Autoren hingegen habe ich in der Regel Probleme, weil ich da das Gefühl habe, dass die Blumigkeit dazu benutzt wird, etwas so zu umschreiben, dass die eigentliche Aussage möglichst gut versteckt wird. 😉