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Yoko Ogawa: Der Herr der kleinen Vögel

Ich habe keine Ahnung mehr, wo ich über „Der Herr der kleinen Vögel“ von Yoko Ogawa gestolpert bin, aber die Inhaltsangabe klang nett und die Autorin wollte ich auch schon länger ausprobieren, also habe ich den Roman in der Onleihe vorgemerkt. In der letzten Woche konnte ich die Geschichte dann lesen und habe mir immer wieder ein Kapitel vorgenommen. „Der Herr der kleinen Vögel“ war für mich definitiv kein Roman, den ich in einem Zug runterlesen konnte. Ich musste mir für all die kleinen Begebenheiten rund um die beiden namenlosen Brüder Zeit nehmen und die verschiedenen Szenen nachklingen lassen.

Yoko Ogawa erzählt von zwei Brüdern, von denen der ältere eines Tages aufhört, auf Japanisch zu kommunizieren, um viele Monate später wieder anzufangen zu sprechen, allerdings nur noch in seiner eigenen Sprache. Eine Sprache, die nur sein kleiner Bruder versteht, die komplex ist und über eine eigene Grammatik, Personalpronomen und all die anderen Dinge verfügt, die eine Sprache ausmachen, in der man auch komplizierte Sachverhalte erklären kann. Doch selbst der jüngere Bruder lernt nie, diese Sprache fließend zu sprechen, sondern kann sie in erster Linie nur verstehen und bei Bedarf übersetzen. Die Eltern der beiden Brüder finden sich lange Zeit nicht damit ab, dass der ältere nicht mehr in ihrer Sprache mit ihnen kommuniziert, und stellen ihn einem Facharzt nach dem anderen vor. Doch keiner dieser Ärzte kann eine „reparierbare“ Ursache für das Verhalten des Jungen finden.

Nach dem Tod der Eltern kümmert sich der jüngere um den älteren Bruder. Zusammen leben die beiden ein ruhiges und bescheidenes Leben, das ebenso von den Bedürfnissen (und Einschränkungen) des Älteren geprägt ist wie von seiner Liebe zu den Vögeln. So liegt im Haushalt der beiden Brüder immer ein Vogelbestimmungsbuch bereit und wird ebenso täglich benutzt wie Salz- und Pfefferstreuer oder der Putzlappen, mit dem der Tisch abgewischt wird. Dreiundzwanzig Jahre lang teilen die beiden sich nach dem Tod der Eltern den Haushalt, bis der altere der beiden Brüder stirbt. Für den jüngeren Bruder wird das Leben nach dem Tod des Bruders noch ein bisschen ruhiger, etwas einsamer, aber auch freier als vorher. Nun muss er sich nicht mehr jeden Moment seines Tages an den Rhythmus seines Bruders anpassen, sondern kann in seiner Mittagspause in die Bibliothek gehen oder mit dem Blick auf den Rosengarten bei der Arbeit sein Essen im Grünen zu sich nehmen. Hin und wieder lernt er neue Menschen kennen, die ihn ein kleines Stückchen begleiten und sein Leben in größerem Ausmaß bereichern, als sie selbst vermuten würden.

Ich mochte diese ruhige Erzählung rund um die beiden Brüder sehr. Es passiert nichts Großartiges in der Geschichte, es gibt keine nennenswerte Entwicklung, keine Dramen und keine jubelnden Höhepunkte, nur eine wunderbare Hommage an ein unauffälliges, bescheidenes Leben, geschrieben in einer berührend schlichten Sprache, die schöne, klare Bilder im Leser hervorruft. Natürlich bleibt ein so zurückhaltender Charakter wie der jüngere Bruder – von den Kindern der Nachbarschaft liebevoll „Der Herr der kleinen Vögel“ gerufen – nicht von den Vorurteilen und Verdächtungen seiner Umgebung verschont. Aber auch wenn es ihm unangenehm ist, dass jemand etwas Negatives über ihn denken könnte, so scheinen selbst diese Phasen sein Leben nicht groß zu beeinträchtigen.

Das beherrschende Thema dieses Romans ist die Liebe zu den Vögeln, die der ältere an den jüngeren Bruder vererbt. Ich mochte diese Momente sehr, in denen einfach nur beschrieben wurde, wie die beiden geduldig lauschen, bis einer der Vögel in ihrem Garten anfing zu singen, wie sie den Gesang genossen und sich Gedanken über die verschiedenen Zwitschertöne machten. Diesen Genuss an der Anwesenheit und dem Gesang von Vögeln bewahrt sich der jüngere Bruder bis zu seinem eigenen Tod und findet in diesen vermeintlich kleinen Momenten Freude, Trost und ein Mittel gegen die Einsamkeit. Mit „Der Herr der kleinen Vögel“ erzählt Yoko Ogawa eine wunderbar ruhige, leicht melancholische Geschichte, die dafür gesorgt hat, dass auch ich beim Lesen ruhiger wurde und mehr „bei mir“ war.