Für den Mai hatte ich mir für die „Bücher, die man gelesen haben muss“-Challenge „Die Frau in Weiß“ von Wilkie Collins vorgenommen. Dieser viktorianische Schriftsteller gilt als Begründer der „Mystery Thriller“ und auf das Genre habe ich zur Zeit eh gerade Lust. 😉
Pünktlich lieferte mir die Stadtbibliothek „Die Frau in Weiß“ in der ungekürzten Fischer-Klassik-Ausgabe (Fischer Verlag, Oktober 2009), die von Arno Schmidt übersetzt wurde, und dann las ich die ersten Seiten. Und las sie noch einmal … und noch einmal … Dann griff ich zu meinem Reader und guckte, ob ich nicht kurzfristig zum Vergleich eine englische Variante davon finden würde. Zum Glück war das kein Problem und schon konnte ich die beiden Versionen einander gegenüberstellen.
Um den Unterschied für euch deutlich zu machen, zitiere ich hier mal den Anfang der ersten Passage, die von der Hauptfigur Walter Hartright erzählt wird:
„Es war der letzte Tag im Juli. Der endlose heiße Sommer begann sich seinem Ende zu nähern; und wir, müde Pilgrime auf Londons Pflaster, fingen an, von Wolkenschatten über weiten Kornfeldern zu träumen oder frischen Herbstbrisen am Meeresstrand.
Was speziell mein bescheidenes Selbst anbelangt, so hinterließ mich der scheidende Sommer körperlich in nicht gerade erfreulicher, geistig in lustloser und finanziell in ausgesprochen dürftiger Verfassung. Ich hatte während des vergangenen Jahres meine beruflichen Möglichkeiten nicht so sorgfältig wie sonst ausgeschöpft; eine Unbesonnenheit, infolge derer sich mir die Aussicht eröffnete, den Herbst fein sparsam und abwechselnd in dem kleinen Landhäuschen meiner Mutter in Hampstead und meiner eigenen Stadtwohnung zu verbringen.“(Wilkie Collins: „Die Frau in Weiß“, Fischer Verlag 2009, S. 10)
„It was the last day of July. The long hot summer was drawing to a close; and we, the weary pilgrims of the London pavements, were beginning to think of the cloud-shadows of the cornfields, and the autumn breezes on the sea-shore.
For my own poor part, the fading summer left me out of health, spirits, and, if the truth must be told, out of money as well. During the past year I had not managed my professional resources as carefully as usual; and my extravagance now limited me to the prospect of spending the autumn economically between my mother’s cottage at Hampstead and my own chambers in town.“(Wilkie Collins: „The Woman in White“, Public-Domain-Kindle-Ausgabe)
Ich denke gar nicht mal, dass der Übersetzer Arno Schmidt seine Sache schlecht gemacht hat (wenn man von dem Wort „Pilgrime“ absieht). Und ich finde es auch fies, dass Übersetzer immer nur erwähnt werden, wenn man unzufrieden mit einem Text ist. 😉 Aber in der Übersetzung wirkt dieser Text so viel pompöser – und somit für mich auch weniger flüssig lesbar – als im Englischen. Für manche Erzählweisen scheint das Deutsche, vor allem, wenn man es im direkten Vergleich sieht, einfach nicht gemacht zu sein. Vor allem der zweite Satz wirkt für mich im Englischen viel sympathischer und runder oder habt ihr das Gefühl, dass ich mich da anstelle?
Nach diesem Vergleich werde ich auf jeden Fall auf Englisch weiterlesen, auch wenn ich für die 685 Seiten wohl eine Weile brauchen werde. Im Zweifelsfall kann ich im Mai für die Challenge ja noch eines der vielen Kinderbücher einschieben, schließlich hat mir die Bibliothek auch „Anne auf Green Gables“ ausleihen können. 😉
Puh…da kann ich dir nur Recht geben. Der deutsche Text luiest sich sperrig und schwer, während ich beim englischen text keine Probleme habe. Wie du aber auch sagst ist die Übersetzung ja nicht so schlecht, aber trotzdem…ich weiß nicht. Den einen Satz musste ich 2x lesen, damit ich ihn ganz verstand, während es auf Englisch gleich klar war. So sollte es ja eigentlich nicht sein 😉
Liebe Grüße
Martina
ich stimme dir zu.
die englischen sätze wirken im zitierten absatz in ihrem aufbau u, der kürze straffer, besser lesbar und zugleich eleganter. dabei muss ich aber auch sagen, dass ich den zweiten satz im englischen inhaltsmäßig so erfasse, wie er gemeint ist. ich gerate aber ins stolpern bei dem versuch, ihn in ein adäquat elegantes deutsch zu übersetzen: "left me out of health, spirits" bringt mich zu gesundheitlich und geistig angeschlagen, was nicht "passt". 🙂
@Martina: Ich habe immer die größte Hochachtung vor Übersetzern, die es schaffen einen Text so zu übersetzen, dass man sich keine Gedanken über ihre Arbeit macht, sondern einfach das Geschriebene genießen kann. Und ich kann mir vorstellen, dass dieses etwas altmodische Englisch auch eine besondere Herausforderung ist, aber auf Deutsch bekommt das Gesagte einfach einen ganz anderen Unterton, wenn es so übersetzt wird. Wenn es nicht so unangenehm zu lesen wäre, wäre es ja faszinierend. 😉 Ich bin auf jeden Fall froh, dass ich das nicht alleine so sehe! 🙂
@Natira: Das ist sicher eine Herausforderung. Aber vielleicht muss man sich dann etwas weiter vom Text entfernen, um näher an Ton und Aussage zu sein? Mein erster Impuls war, dass der Satz auf jeden Fall umgestellt werden müsste, weil der Satzbau so den Unterton meinem Gefühl nach deutlich verändert und das Ganze so viel schwerfälliger macht.
Ich hab die weiße Frau im Original gelesen – und war begeistert. Noch besser hat mir allerdings "The Moonstone" gefallen… Viel Lese-Vergnügen, Mila
@Mila: Dann hoffe ich, dass mir die Geschichte ebenso gut gefällt wie dir. Ich muss gestehen, dass ich ganz schön überrascht war, als ich sah wie viele Romane der Autor geschrieben hat. Man hört ja doch vor allem von "The Woman in White". Danke!
Oh, ja, da sieht man mal wieder, wie entscheidend es sein kann, wer ein literarisches Werk übersetzt und mit welchem Anspruch er/sie das tut.
Hier liegt derselbe Fall vor, der neulich in einem Vortrag zum Thema Übersetzen angesprochen wurde, den ich besucht habe, nämlich dass Autoren auch als Übersetzer tätig sind.
Das im Vortrag genannte Beispiel war der Autor Gabriel Garcia Marquez, dessen Werke zum Teil von Curt Meyer-Clason übersetzt wurden. Der Vortragende meinte: "Wenn ich Meyer-Clason lesen will, kaufe ich mir eines seiner Bücher. Wenn ich mir eine Übersetzung eines Romans von Garcia Marquez kaufe, will ich auch Garcia Marquez lesen, nicht Meyer-Clason."
Autoren können beim Übersetzen nämlich oftmals nicht das, was einen guten Übersetzer auch ausmacht: sich selbst zurücknehmen.
Arno Schmidt war ja ein namhafter deutscher Schriftsteller. Ich habe von ihm noch nichts gelesen, würde aber mal vermuten, dass seine Übersetzung von "The Woman in White" seinen eigenen Werken ähnlich ist, sprich: dass er seinen eigenen Stil auf die Übersetzung "draufgedrückt" hat. Und das geht meines Erachtens einfach nicht. Er soll in der Übersetzung ja den Stil von Wilkie Collins wiedergeben, nicht seinen eigenen. Das hat er meines Erachtens hier nicht besonders gut gemacht.
Auf jeden Fall vermittelt seine Übersetzung dem Leser einen falschen Eindruck davon, wie Wilkie Collins schreibt, und das ist ziemlich schade.
@Ariana: Ich war mir nicht sicher, ob es sich dabei um die gleiche Person handelt (und zu faul, um zu recherchieren 😉 ), kann mir aber gut vorstellen, dass du da recht hast. Gelesen habe ich von Arno Schmidt ebenfalls (noch?) nichts, so dass ich das nicht vergleichen kann, aber man spürt schon, dass da jemand übersetzt hat, der seine eigene Vorstellung von der angemessenen Ausdrucksweise hatte.
Dem Vortragenden zum Thema Garcia Marquez kann ich nur zustimmen! So schade ich es finde, dass Übersetzer so selten gewürdigt werden und in der Regel nur dann Erwähnung finden, wenn sie ihre Arbeit nicht gut gemacht haben, so sehr mag ich es, wenn ich eine übersetzte Geschichte einfach genießen kann, ohne darüber zu stolpern, dass sie eben nicht das Original ist, sondern "nur" eine Übersetzung.
Bei Hörbuchsprechern stelle ich ähnliche Ansprüche. Da will ich keine verschiedenen "lustigen" Stimmen, sondern einen gute Lesung, die das Beste aus der Vorlage rausholt, ohne eine individuelle Note des Sprechers. 😉 Und sowohl bei Hörbuchsprechern, als auch bei Übersetzern gibt es im Laufe der Zeit Namen, die bei mir positive Erwartungen wecken, weil ihnen genau das – soweit ich das ohne einen direkten Vergleich beurteilen kann – gelingt.
Nein, ich finde auch, dass du dich nicht anstellst. Das würde (und werde, steht eh noch auf meiner Auswahlliste ;-)) ich auch lieber auf Englisch lesen, da ist es tatsächlich leichter zu verstehen.
Klar, Übersetzen ist wirklich schwierig, das habe ich schon mal gemerkt, als ich unbedingt meiner Mutter "Good Wives" vermitteln wollte, das ich nicht auf Deutsch finden konnte (ich glaube, ich habe bloß das Buch unter einem anderen Titel nicht wiedererkannt, aber egal). Also habe ich mal versucht, es zu übersetzen – und fand das wahnsinnig schwierig, eben genau das: Nahe am Originalstil zu bleiben, aber trotzdem einen flüssigen Text zu produzieren.
Hier hat sich der Übersetzer aber schon ein paar größere Freiheiten genommen und schwülstiger als nötig übersetzt. Allein die hinzugefügten Adjektive im ersten Satz finde ich nicht in Ordnung, muss ich sagen. Oder dieses "fein sparsam" im letzten. Das ist ja altmodischer als das Original.
Übrigens konnte ich mir jetzt nicht verkneifen, mich mal am zweiten zu versuchen. 😉 Bei mir klänge der so: "Was mich betrifft, so ließ mich der scheidende Sommer bei schlechter Gesundheit, in schlechter Gemütsverfassung und, um ehrlich zu sein, auch in einer schlechten finanziellen Lage zurück."
@Birthe: Ich befürchte ja immer, dass das Englisch gerade bei älteren Büchern zu anspruchsvoll für mich sein könnte, umso überraschter war ich davon, dass es hier so viel angenehmer zu lesen ist. 😀
Für eine Freundin habe ich mal den dritten Teil eine fantastischen Jugendbuchreihe übersetzt. Das ging ganz gut (auch weil ich die ersten beiden Bände in der Übersetzung hatte), aber die teils erfundenen, teils realen Pflanzennamen waren höllisch herausfordernd. Aber da war die Vorlage auch sprachlich relativ einfach gehalten und ich konnte mir dafür so viel Zeit nehmen, wie ich wollte. Suchtest du eine deutsche Variante des Louisa-May-Alcott-Titels? Da gibt es auf jeden Fall welche, auch wenn ich spontan nur über sehr alte Übersetzungen gestolpert bin und mich natürlich an keinen aktuellen Titel erinnern kann. 😀
Über das "fein sparsam" bin ich auch gestolpert. Das klingt so betulich und weniger nach einem jungen Mann! Dein Übersetzungsversuch gefällt mir auf jeden Fall deutlich besser! 🙂
Ein sehr interessanter Vergleich, der für mich gerade sehr hilfreich ist. Ich bin mir zwar noch nicht sicher, ob ich "The Woman in White" lesen werde, hatte bislang aber die Übersetzung auf meiner Wunschliste, weil ich dachte, dass ich mit dem "alten" Englisch da nicht klarkommen würde.
Nach diesem Vergleich muss ich meine Meinung revidieren: Das ist auf Englisch ja anscheinend einfacher zu lesen. %-)
@Neyasha: Ich war mir auch sicher, dass die Übersetzung einfacher wäre – bis ich sie dann angelesen hatte. ;D Aber vielleicht gibt es ja auch noch eine deutsche Variante von einem anderen Übersetzer oder du gibst doch der Originalversion den Vorrang. Damit klappt es wirklich gut. 🙂
Der Satzbau ist auf Englisch ja oft einfacher als auf Deutsch (nicht grundlos lesen viele Studenten Lehrbücher lieber in der Fremdsprache, was eigentlich ein Armutszeugnis für die deutschen Fachbücher ist), und dann ist das Original der Übersetzung natürlich auch immer vorzuziehen.
Ich habe allerdings auch die Fischer Klassik-Ausgabe und werde diese also auch lesen – an den Stil gewöhnt man sich vermutlich. Wenn Autoren übersetzen, kann das offenbar schnell zu Schwierigkeiten führen (wenn ich da an das denke, was Schlegel aus Shakespeare gemacht hat… :-/)
@Kiya: Wenn ich keine Alternative hätte, würde ich mich vermutlich auch an die Übersetzung gewöhnen. Aber ich bin ehrlich froh, dass ich ohne große Umstände auf die englische Ausgabe zurückgreifen kann!
Ich habe das Gefühl, dass bei deutschen Fachbüchern die Autoren gern besonders geschwollen oder komplex formulieren, weil das in Deutschland anscheinend "anerkannter" ist – zumindest in manchen Teilen der Bevölkerung. Bei einigen Zeitungsartikeln der "großen" Zeitungen fühlt es sich auch so an, als ob jemand da besonders komplexe Formulierungen gesucht hätte, statt einfach klar heraus etwas darzulegen.
Ohje. Ich habe mir gerade mal den Wikipedia Eintrag über Arno Schmidt durchgelesen und ich denke, jemand wie er, der sich in seinen eigenen Büchern so sehr um eine ganz besondere Sprache bemüht hat, kann wahrscheinlich auch beim Übersetzen gar nicht anders.
@Hermia: Dann sollte sich ein Verlag gut überlegen, ob er einen solchen Autor für eine Übersetzung heranzieht oder nicht vielleicht doch lieber einen Profi damit beauftragt. 😉
Ich glaube, vor 20, 30 Jahren hat das noch niemand so kritisch gesehen. Leider!
Da hast du wohl recht. Damals war es ja auch – zumindest für ein Mädchen, das auf eine Kleinstadtbuchhandlung angewiesen war – sehr schwierig englische Bücher zu bekommen. Da wäre ich nie auf den Gedanken gekommen die Übersetzung mit dem Original zu vergleichen.
Liebe Winterkatze,
ich habe 2008 mal einen Versuch mit der "Frau in Weiß" in der Arno-Schmidt-Übersetzung gemacht – nachdem mich der "Monddiamant", nicht von Schmidt übersetzt – sehr begeistert hatte. Nach knapp 100 Seiten habe ich die Schmidt-Übersetzung entnervt beiseite gelegt. Ich kam einfach nicht in das Buch rein. Da mich das 19. Jh nach wie vor sehr interessiert, habe ich vor ein paar Wochen beschlossen, noch einen Versuch mit "Die Frau in Weiß" zu wagen – diesmal in der Übersetzung von Hanna Neves. (Dieses doch sehr umfangreiche Buch auf Englisch zu lesen, ist mir momentan zu stressig.) Ich kann nur sagen, die Übersetzung von Hanna Neves bietet ein völlig anderes Leseerlebnis als die Schmidt-Übersetzung. Auf einmal finde ich "Die Frau in Weiß" wirklich spannend … 😉 .
Der Anfang in der Hanna-Neves-Übersetzung liest sich so:
"Es war der letzte Julitag. Der lange, heiße Sommer ging dem Ende zu, und wir, die müden Pilger über Londons Pflaster, fingen an, von Wolkenschatten über Kornfeldern und Herbstbrisen am Meeresstrand zu träumen."
Liebe Grüße
Beate
Liebe Beate,
vielen Dank für diesen Auszug und deine Erfahrungen zur "Die Frau in Weiß"! Diese wenigen Sätze finde ich auch deutlich stimmungsvoller und angemessener als die der anderen Übersetzung. Vielleicht kann ein anderer Challenge-Teilnehmer davon profitieren und sich die Neves-Version besorgen!
Sehr weit bin ich auf Englisch auch noch nicht gekommen – es gab wenig Zeit zum Lesen in den letzten Tagen -, aber ich denke schon, dass ich das Buch im Original beenden werden. Es hetzt mich ja keiner und ich habe kein Problem damit mehrere Bücher parallel zu lesen.