„The Woman in White“ von Wilkie Collins hat es mir anfangs nicht so leicht gemacht. Erst gefiel mir die deutsche Übersetzung nicht, dann wurde ich nicht so recht warm mit der Figur des Walter Hartright, und auf Englisch hat sich das Ganze auch noch etwas hingezogen. Trotzdem hat mir die Geschichte sehr gut gefallen, als ich erst einmal in der Handlung drin war (und mich an die etwas langatmige Schreibweise der verschiedenen Figuren gewöhnt hatte). Erzählt wird die Geschichte aus mehreren Perspektiven – von denen mir die des alten Familienanwalts Gilmore und die der älteren Schwester der „verfolgten Heldin“ am liebsten waren.
Der Beginn von „The Woman in White“ wird von Walter Hartright berichtet, der sein Auskommen als Zeichenlehrer in London hat und über die Sommermonate etwas knapp bei Kasse ist. So könnte es ihm gerade recht kommen, als ein Freund ihm ein Engagement als Zeichenlehrer im Limmeridge House in Cumberland vermitteln kann – doch der gute Walter ist anfangs etwas unmotiviert und unwillig, auf Reisen zu gehen. Trotzdem nimmt er natürlich den Job an und verabschiedet sich am Abend vor der Abfahrt von seiner Mutter und Schwester, die in einem Cottage vor den Toren Londons leben.
Auf dem Rückweg in die Stadt wird er von einer geheimnisvollen Frau in Weiß angesprochen, die sich zu fürchten scheint und ihn bittet, sie bis London zu begleiten. Nachdem sie sich von ihm getrennt hat, ohne ihm ihren Namen zu verraten – aber dafür weiß er nun, dass sie gute Erinnerungen an Limmeridge House hegt, das sie als Kind besucht hatte – bemerkt er zwei Männer, die auf der Suche nach einer entflohenen Patientin eines Irrenhauses, die vermutlich ganz in Weiß gekleidet ist, sind. Bei seiner Ankunft in Limmeridge House ist er noch ganz erfüllt von diesem Erlebnis und versucht mit der Hilfe von Marian Halcombe (einer seiner beiden Zeichenschülerinnen), mehr über die Unbekannte herauszubekommen.
Aus den alten Briefen ihrer verstorbenen Mutter (Mrs. Fairlie) schließt die junge Frau, dass es sich bei der Dame in Weiß um Anne Catherick handeln muss, die als Kind eine Zeit lang in der örtlichen Schule unterrichtet wurde und die – aufgrund ihres zurückgebliebenen Gemüts und ihrer äußerlichen Ähnlichkeit mit Marians Halbschwester Laura Fairlie – von Mrs. Fairlie unter ihre Fittiche genommen wurde. Nach dieser Entdeckung scheinen aber alle Hinweise erst einmal ausgeschöpft zu sein und Walter und Marian erwarten nicht, dass sie noch mehr über die geheimnisvolle Anne Catherick rausfinden.
Währenddessen verliebt sich Walter in die schöne, sanfte und künstlerisch begabte Laura, die ebenfalls tiefe Gefühle für den Zeichenlehrer empfindet. Doch da er nicht standesgemäß ist und sie vor Jahren auf dem väterlichen Totenbett mit Baron Glyde verlobt wurde, kann aus der Sache natürlich nichts werden. So ist Walter gezwungen, einen persönlichen Notfall vorzuschieben, um von seinem Arbeitgeber (Lauras Onkel Sir Fairlie) vorzeitig aus seinem Engagement entlassen zu werden. Damit wäre die ganze Angelegenheit vermutlich erledigt gewesen, wenn nicht Anne Catherick unvermutet im Dorf aufgetaucht wäre und einen (eigentlich anonymen) kryptischen Brief an Laura geschrieben hätte, in dem sie die junge Frau vor der Heirat mit dem Baron warnt.
Doch da Anne nicht bereit ist, eine klare Aussage zu machen, und wieder verschwindet, bevor Walter und Marian mehr aus ihr herausholen können, und auch nichts Nachteiliges über den Baron herauszufinden ist, heiratet Laura den älteren Edelmann und geht für ein paar Monate auf Hochzeitsreise, während Walter sich von einer Expedition anheuern lässt, um die schöne Laura zu vergessen. Zwischen den beiden unglücklich Liebenden hängt Marian und versucht, für alle das Richtige zu arrangieren, zu trösten, zu schützen und ihrer Schwester so viel Sicherheit wie möglich zu geben. Natürlich stellt sich nach der Hochzeitsreise heraus, dass Baron Glyde ein Schuft ist – ebenso wie sein bester Freund, der italienische Conte Fosco, der ganz zufällig mit Lauras Tante verheiratet ist (die übrigens wegen der Wahl ihres Ehemannes von ihrer Familie verstoßen wurde).
Das war jetzt grob zusammengefasst (und ohne zu sehr zu spoilern) die Handlung des ersten Drittels von „The Woman in White“, die von Walter Hartright sowie dem Familienanwalt der Fairlies und Marian Halcombe erzählt wurde. Dabei gelingt es Wilkie Collins eigentlich sehr gut, im Leser (und in Walter und Marian) die Überzeugung zu wecken, dass Percival Glyde Böses im Schilde führt, aber auch aufzuzeigen, dass allen Beteiligten die Hände gebunden sind, solange sie keinen Beweis für den schlechten Charakter des zukünftigen Bräutigams haben. So kann man sich zwar die ganze Zeit denken, welche Richtung die Handlung jeweils einschlagen wird, aber die Frage, wie es genau dazu kommt, bringt einen dazu, sich intensiv mit der Geschichte zu beschäftigen und immer weiter zu lesen.
„The Woman in White“ war wirklich spannend zu lesen, dabei habe ich oft genug beim Lesen gedacht, dass da nur ein Haufen unfassbar schwafelnder Menschen zu Wort kommt – und so zappelte ich mit den Füßen vor Ungeduld, während jemand abschweift, weil er noch einschieben muss, dass er natürlich unter normalen Umständen niemals jemanden belauschen würde, aber das die einzige Chance zu sein schien, etwas über die Pläne des Barons, über die Beweggründe des Contes und über die Hintergründe dieses oder jenes Moments zu erfahren, obwohl man sich dafür in eine gefährliche und seinem Stand nicht angemessene Position bringen müsste, während das Wetter … *g*, weil ich doch unbedingt erfahren wollte, ob das Dienstmädchen vielleicht eine schlimme Begegnung hatte oder ob es in der Lage war, unbehelligt – aber dafür mit zwei brisanten Briefen in der Tasche – abzureisen. Und ja, das war jetzt ein einziger langer Satz, der hoffentlich verdeutlicht, wie es mir beim Lesen erging.
Aber nicht nur Spannung kommt durch diese ausufernde Erzählweise auf, man lernt auch die Charaktere sehr gut kennen. Bei denjenigen, die einem unsympathisch sind, fühlt sich jeder Absatz endlos an (und unterstreicht nur die unangenehmen Züge des jeweiligen Menschen), bei denjenigen hingegen, die einem sympathisch sind, sorgen diese kleinen Abschweifungen noch mehr dafür, dass sie einem ans Herz wachsen und dass sie mit ihren Stärken und Schwächen mit jedem Bericht ein bisschen realer wirken. Nur die Figur der armen Laura, die als Einzige nicht zu Wort kommt, erschien mir am Ende immer noch etwas farblos, aber damit konnte ich leben. Ich bin auf jeden Fall froh, dass ich durch die „100 Bücher“-Challenge auf das Buch aufmerksam geworden bin. Und wenn ich irgendwann mal etwas mehr Ruhe und Lust auf etwas ausführlichere Lektüre habe, dann lese ich bestimmt noch einen der anderen Titel von Wilkie Collins.