Vor fast vier Jahren erschien mein letzter Beitrag zum „Figurenkabinett“, was eindeutig viel zu lange her ist. Nachdem ich aber gleich an meinem ersten Tag in der neuen Wohnung passende Kandidaten für diese Kategorie gefunden habe, als mein Mann einen schon älteren Bücherkarton auspackte, der beim Umzug wohl eine Ladung Wasser abbekommen hatte – wie auch immer, da es an dem Tag nicht regnete -, gibt es hier endlich wieder eine Figurenvorstellung. (Die Bücher sind zum Glück trocken geblieben.)
Über Miss Seeton bin ich vor ungefähr siebzehn Jahren gestolpert, als ich einen Roman mit ihr auf einem Wühltisch fand. Kurz darauf habe ich mir alle noch verfügbaren Titel geholt, die ich bekommen konnte, was leider nur drei weitere Bücher waren. Ich bin mir nicht sicher, wie viele Krimis überhaupt damals mit Miss Seeton ins Deutsche übersetzt wurden, vermute aber, dass Econ sich damals auf die fünf Romane beschränkt hat, die von Heron Carvic, dem Erfinder von Miss Seeton, geschrieben wurden, statt auch die weiteren 17 Bände (geschrieben von Roy Peter Martin als Hampton Charles und Sarah J. Mason als Hamilton Crane) auf den Markt zu bringen.
Miss Seeton ist eine wunderbar naive Protagonistin, die sich zu Beginn der Serie darauf freut, dass sie genügend angespart hat, um sich in dem kleinen Häuschen ihrer verstorbenen Patentante zur Ruhe zu setzen, statt weiterhin als Kunstlehrerin ihr Brot zu verdienen. Sie ist eine altmodische und bescheidene ältere Dame, deren Fähigkeiten als Lehrerin größer sind als ihre Begabung als Künstlerin. Nur ganz selten überkommt sie ein Impuls, und dann malt und zeichnet sie Bilder, die mehr zeigen, als Miss Seeton beabsichtigt hatte. Sie selbst ist von diesen Kunstwerken mehr irritiert, als dass sie sich darüber freuen kann, schließlich erschafft sie diese Bilder in Momenten, in denen sie sich nicht mehr – wie es sich für eine Dame gehört – unter Kontrolle hat. Erst als sie zufällig über einen Kriminalfall stolpert und im Rahmen der Ermittlungen an Inspector Delphick gerät, erkennt dieser, dass Miss Seetons besondere Bilder immer einen entscheidenden Hinweis auf die Lösung des Falls beinhalten.
Miss Seeton ist mir sehr ans Herz gewachsen, und die Geschichten mit ihr zu lesen macht mich glücklich (auch wenn das angesichts der vielen Leichen in den Romanen etwas seltsam klingt). Die ältere Lehrerin ist eine sanfte Dame, die von den meisten Menschen nur das Beste annimmst und selbst für schlechtes Benehmen – welches sie als überaus unangenehm empfindet – eine Entschuldigung zu finden versucht. Nur manchmal ist ihre Empörung so groß, dass sie aus einem Impuls heraus ihren Regenschirm zückt und etwas tatkräftiger eingreift. So auch an dem Abend, an dem sie in London eine Oper besucht hat und dann miterlebt, wie ein junger Mann im Streit seine Begleiterin in die Seite boxt. Da so ein Benehmen nicht toleriert werden kann (obwohl die junge Frau sich zuvor eindeutig nicht gerade damenhaft ausgedrückt hat), pikst Miss Seeton den Mann mit ihrer Schirmspitze – ohne zu wissen, dass sie gerade Zeugin eines Mordes wurde. Während die Polizei alles tut, um ihre einzige Augenzeugin zu schützen, begreift Miss Seeton so gar nicht, dass sie in Gefahr sein könnte.
„… die kleine Wohnung quoll doch beinah über [vor Polizisten] – und sie wollten alles nachprüfen und fragten ständig, ob alles an Ort und Stelle wäre. Gott sei Dank fehlte nichts. Nur vielleicht das Küchenfenster. Natürlich fehlte es nicht, es war bloß offen. Ob sie nicht doch vielleicht vergessen hätte, es zuzumachen? Sie konnte sich nicht erinnern, es vergessen zu haben. Jedenfalls fanden die Polizisten das interessant, und sie wollten unbedingt abstauben, wegen der Fingerabdrücke, obwohl man eigentlich nicht von „Abstauben“ reden kann, wenn überall Puder verstreut und alles schmutzig gemacht wird. Der eine Beamte war sogar auf die Feuerleiter hinaus gestiegen und hatte da draußen rumgepudert. Aber anscheinend waren nirgends Fingerabdrücke, nicht einmal ihre eigenen; das nannten sie „säuberlich abgewischt“, was ja sehr zufriedenstellend klang. Demnach musste sie das Küchenfenster doch vergessen haben.“ („Miss Seetons erster Fall“, S. 25-26, Econ Verlag)
Wie man diesem Ausschnitt entnehmen kann, ist Miss Seeton nicht gerade eine geniale Ermittlerin und ihre Menschenkenntnis ist auch nicht unbedingt ausgeprägt. Trotzdem hat sie – gerade beim Zeichnen – immer wieder Momente, in denen sie Eigenschaften an Personen festhält, die anderen Menschen nicht aufgefallen sind oder die sie nicht in Worte hätten kleiden können. So ist sie nicht wie so viele andere britische ältere Kriminalromanheldinnen diejenige, die aktiv an einem Fall arbeitet, sondern eher jemand, der durch Zufall, Pflichtbewusstsein und viele guten Absichten über Dinge stolpert, die den Polizisten Hinweise auf ihre aktuellen Fälle geben. Oder wie der Vorgesetzte von Inspektor Delphick es ausdrückt: Miss Seeton dient als Katalysator. Durch ihre Anwesenheit und ihre Sicht auf die Dinge kommt ein Fall in Bewegung und die Polizisten bekommen eine neue Perspektive auf die Kriminalfälle, in denen sie nicht weiter wissen.
Dass diese Mischung aus Naivität, Zufällen und ernsthafter Kriminalarbeit sehr amüsant zu lesen ist, muss ich vermutlich gar nicht erst betonen. Ich kichere jedenfalls beim Lesen ständig vor mich hin und genieße all die Missverständnisse zwischen Miss Seeton und ihrer Umgebung sehr. Ein bisschen zu extrem ist mir hingegen das Dorf dargestellt, in dem Miss Seeton (anfangs nur während der Schulferien) lebt. Dort gibt es eine große Neigung zu Klatsch und Tratsch – was ja zu erwarten war, aber hier mischt sich dazu auch noch eine große Boshaftigkeit von Seiten einiger Beteiligter, so dass aus kleinen Ereignissen schnell riesige Gerüchte entstehen, die hemmungslos verbreitet werden und in denen immer das Unwahrscheinlichste und Schlimmste über eine Person gesagt wird. Zum Glück bleibt der Autor bei diesen Szenen häufig vage genug, so dass man als Leser zwar grob weiß, welche Gerüchte im Dorf unterwegs sind, aber nicht alle rufschädigenden Gespräche im Detail mitbekommt.
Die deutschen Ausgaben der Miss-Seeton-Romane gibt es nur noch gebraucht, was aber auch bedeutet, dass diese Bücher für ein paar Cent zu bekommen sind. Außerdem habe ich festgestellt, dass aktuell 18 der 22 englischen Titel (zumindest bei Amazon) sehr günstig und mit recht nettem Cover als eBook zu bekommen sind. Wenn ich also jemanden neugierig gemacht haben sollte, gibt es die Möglichkeit, einen „Blick ins Buch“ zu werfen.
Miss-Seeton-Romane von Heron Carvic (inklusive der deutschen Titel, soweit sie mir bekannt sind):
- Picture Miss Seeton (1968)/Miss Seetons erster Fall (bzw. Alter schützt vor Gaunern nicht)
- Miss Seeton Draws the Line (1969)/Miss Seeton kann’s nicht lassen
- Witch Miss Seeton (1971)/Miss Seeton und der Hexenzauber
- Miss Seeton Sings (1973)
- Odds on Miss Seeton (1975)/Miss Seeton riskiert alles (bzw. Von fremden Herren nimmt man nichts)
Ich muß gestehen, davon habe ich noch nie etwas gehört. Deine Beschreibung ist jedenfalls toll und vielleicht sollte ich mir überlegen, ob ich nicht doch mal einen Krimi aus der Serie lese.
Mit liebem Gruß Eva
Vielen Dank für die schöne Vorstellung, liebe Winterkatze. Da werden ich doch morgen mal bei uns in der Bücherei nach stöbern gehen. Miss Seeton scheint eine Person nach meinem Geschmack zu sein 😉 Ganz liebe Grüße in den Abend, Nicole
@Eva: Wenn du jemals mit einem amüsanten Kriminalroman anfangen möchtest, ist "Miss Seeton" definitiv nicht die schlechteste Wahl. Ich bin gespannt, ob es irgendwann dazu kommt.
@Nicole: Ich fürchte, dass die Titel für die meisten Bibliotheken zu alt sind. Die müssen ihren Bestand ja doch reizvoll genug für die meisten Leser halten. Wenn du kein Glück hast und immer noch neugierig bist, dann könntest du auf den diversen Gebrauchtplattformen mal nach "Miss Seetons erster Fall" schauen oder vielleicht habt ihr in der Nähe ein "Gebrauchtkaufhaus", das auch Bücher anbietet.
Du wieder! Vor ein paar Tagen schon hast du mich bei Twitter schon neugierig gemacht und jetzt musste ich doch tatsächlich vier Bücher kaufen! 😉
Ich habe bei der Krimi Couch nachgeschaut und anscheinend wurden auch nur vier Bücher übersetzt. Naja, da ich aber anscheinend gerade ein bisschen in eine Krimiphase reinrutsche und gerade die älteren Titel mir mehr liegen, bin ich schon sehr gespannt. 😉
@Helma: Ich bin ganz unschuldig! Ich schreibe doch nur über Bücher und manche davon gefallen mir und dann sage ich das auch und überhaupt! 😉
Im fünften Band gibt es Aussagen dazu, dass Miss Seeton da in der Schweiz war – vermutlich war das dem deutschen Verlag nicht "britisch" genug für eine Übersetzung. Ich bin auf jeden Fall gespannt, ob dir Miss Seeton ebenso viel Freude bereitet wie mir. 🙂
Ich bin ja selber schuld, ich hätte ja auch erstmal nur den ersten Band kaufen können. Aber nachdem es bei rebuy die anderen Ausgaben auch gab und sich die Versandkosten lohnen müssen…und überhaupt, es ist doch ökologisch sinnvoll, alle Bücher gleich auf einmal zu kaufen, so spare ich zusätzliche Verpackungen und Transportkosten…
(um Ausreden war ich noch nie verlegen^^)
@Helma: Jupp, hättest du! Aber der ökologische Aspekt ist nicht von der Hand zu weisen. *g* Außerdem muss man schon sagen, dass die Bücher inzwischen für einen Spottpreis zu haben sind, was auch einen Blindkauf nicht so riskant werden lässt. 🙂