Eine Figur, die mir schon seit sehr vielen Jahren am Herzen liegt, ist Miss Jane Marple. Ihren ersten Auftritt hatte sie in der Kurzgeschichtensammlung, die auf deutsch unter dem Titel „Der Dienstagabend-Klub“ bei Scherz erschienen ist. In diesen Geschichten wurde Miss Marple beschrieben als eine alte Dame, die – ganz viktorianisch – in schwarze Spitze gehüllt daherkommt. Die schwarze Spitze hat sie für ihren ersten Roman dann abgelegt und stattdessen praktischen und adretten Tweed angezogen, aber viele Eigenheiten und ihre Nase für kleine Unstimmigkeiten hat sie behalten.
Vielen Leuten fällt zu Miss Marple wohl als Erstes ihr Strickzeug ein, das sie ständig begleitet. Jane Marple bestrickt nicht nur die diversen Patenkinder oder ihren Neffen, sondern auch den Nachwuchs der verschiedenen Hausmädchen, für die sie sich auch lange Jahre nach deren Ausscheiden aus ihrem Haushalt noch verantwortlich fühlt. Doch vor allem scheint mir das Strickzeug ein Indiz dafür zu sein, dass Miss Marple – auch wenn sie einen Urlaub oder eine gemütliche Teestunde zu schätzen weiß – nicht in der Lage ist, untätig zu sein. So muss das Strickzeug in ihren letzten Lebensjahren auch so manche Stunde überbrücken, die die alte Dame gern in ihrem geliebten Garten verbracht hätte, was ihr aus gesundheitlichen Gründen aber verboten wurde.
Und auch die Tatsache, dass Jane Marple für jede Person anscheinend ein Pendant aus ihrem persönlichen oder dörflichen Umfeld zu kennen scheint, hat sich wohl in die Erinnerung vieler Leser eingeprägt. Manchmal wird ihr vorgeworfen, dass sie boshaft, arrogant oder klatschsüchtig sei, doch ich persönlich habe das nie so empfunden. Miss Marple – deren gesellschaftliches Umfeld trotz aller Bekanntschaften doch recht begrenzt ist – interessiert sich für die Menschen in ihrer Umgebung. Und ihre scharfe Beobachtungsgabe führt ebenso wie ihr (manchmal erschreckend) realistisches Menschenbild zu Schlussfolgerungen, die die meisten anderen Personen überraschend (und zynisch) finden.
Für mich hingegen ist Miss Marple eine der neutralsten Personen, die je in der Literatur geschaffen wurden. Ihre Lebenserfahrung sagt ihr, dass erschreckend viele Menschen dumm sind (oder besser gesagt dumm handeln) – ein Gefühl, das ich spätestens beim Blick in das nachmittägliche Fernsehprogramm teile 😉 – und dass gewisse Verhaltensweisen bei bestimmten Menschentypen immer wieder zu beobachten sind. Dabei hegt sie – für eine Frau ihrer Zeit – erstaunlich wenig Standesdünkel und hat keine Hemmungen, einen Lord mit ihrem örtlichen Metzger zu vergleichen, wenn das Benehmen des einen sie an den anderen (der übrigens jahrelang ein Verhältnis samt Kinderschar im Nachbarort finanzierte) erinnerte. Aber Jane Marple steckt die verschiedenen Menschen nicht auf Anhieb in eine Schublade, sie registriert diese Ähnlichkeiten, bleibt aber erst einmal zurückhaltend und hält der Person zugute, dass sie sich in ihrem Urteil irren kann. Sie weiß, dass Menschen nicht völlig gleich sind, auch wenn sich manche Verhaltensweisen zu wiederholen scheinen.
Mir tut Miss Marple häufig leid. Sie hat zwar viele Bekanntschaften, einen Neffen, der sich rührend um sie kümmert, und diverse Patenkinder, mit denen sie ebenfalls regen Kontakt hält, aber es gibt nur wenige Menschen, mit denen sie sich auf Augenhöhe unterhalten kann. In den Geschichten rund um den „Dienstagabend-Klub“ wird deutlich, dass sie zwar gesellschaftlichen Umgang mit dem „gehobenen“ Bürgertum in ihrem Dorf pflegt und sich für die Gemeinde engagiert, aber wirkliche Freunde hat sie in ihrer Nähe nicht. Erst durch Intervention von Sir Henry Clithering kommt engerer Kontakt zu Dolly Bantry zustande, mit der sich Jane Marple dann auch etwas enger anfreundet. Besonders traurig finde ich eine Aussage von Jane Marple, in der sie meint, dass eine der schlimmsten Nebenerscheinungen des Alterns ist, dass sich niemand mehr daran erinnert, wie man als junger Mensch war.
Jeder sieht nur die alte Miss Marple, die aufrecht mit ihrem Strickzeug im Sessel sitzt, die mit aufmerksamen Augen ihre Umgebung beobachtet oder erbarmungslos im Garten gegen jedes Unkraut ankämpft, aber diejenigen, die sie als junges und unternehmungslustiges Mädchen kennengelernt haben, sind inzwischen verstorben. Dabei muss Jane Marple eine aufgeweckte und recht gebildete junge Frau gewesen sein, deren Herz einmal für einen Mann in Uniform schlug und die eine so gute Freundin war, dass ihre Schulfreundschaften bis ins hohe Alter Bestand haben. Allerdings denke ich, dass die junge Jane es auch nicht so ganz einfach gehabt hat, denn ihre Mutter wird – in den wenigen Sätzen, in denen sie überhaupt Erwähnung findet – als eine sehr bestimmende Frau beschrieben, als eine Mutter, die genau zu wissen glaubt, was für ihre Tochter das Beste ist und die dementsprechende Maßnahmen ergreift. Auf der anderen Seite hat ihre Mutter Jane Marple auch eine grundsätzliche Auffassung von Recht und Unrecht – und dem, was sich für eine Dame gehört – beigebracht, die sie für ihr gesamtes Leben geprägt hat.
Auch gefällt mir an Jane Marple, dass sie sich selbst gegenüber ehrlich ist. Obwohl sie einige Freunde hat, die keine Engländer sind, ist sie sich ihrer Vorurteile gegen alles „unenglische“ durchaus bewusst. Nicht selten ertappt sie sich dabei, dass sie einen ausländischen Verdächtigen mit deutlich mehr Misstrauen beobachtet als den gleichermaßen verdächtigen Engländer. Und in einem Roman geht ihr durch den Kopf, dass es sehr praktisch wäre, wenn der Ausländer der Verbrecher wäre, denn dann müsste sie „ihre“ Gesellschaftsschicht nicht in Unruhe bringen. Doch so einfach macht es sich die alte Dame nicht, ihr ist nur eben bewusst, dass es angenehmer wäre, wenn ein Außenstehender derjeniger wäre, der eine Tat begangen hat, die sich – nicht nur in Miss Marples Gesellschaftsschicht – einfach nicht gehört.
Recht charmant finde ich, dass Jane Marple bestimmte Ansichten über Männer ihr Leben lang nicht abgelegt hat. Auch im hohen Alter scheint sie ein gewisses Rollenmodel im Hinterkopf zu haben, welches dafür sorgt, dass sie bestimmte Dinge von einem Mann erwartet. So serviert sie einem männlichen Gast nicht das gleiche Essen wie einer Freundin, bietet andere Alkoholika an und sucht männlichen Rat und Unterstützung, wenn sie bei einem ihrer Fälle über etwas gestolpert ist, das sie nicht allein bewältigen kann. Hätte Miss Marple je einen Ehemann gehabt, so hätte sich so manche Vorstellung von der Männerwelt wohl inzwischen etwas abgenutzt. 😉
Insgesamt betrachtet sie die Welt, ohne sich große Illusionen zu machen, was häufig dazu führt, dass der Leser sie als außenstehende Beobachterin wahrnimmt. Doch wenn ihr Gerechtigkeitsempfinden verletzt wird oder wenn Jane Marple feststellt, dass jemand sich respektlos oder verächtlich benimmt, dann kann sie überraschend energisch werden. Ich glaube, dass auch all die jungen Mädchen, die von ihr für eine Stellung als Hausmädchen ausgebildet wurden, sich – trotz Miss Marples Strenge – immer sicher sein konnten, dass sie sich mit ihren Fragen und Nöten an ihre ehemalige Dienstherrin wenden konnten.
All das hat zusammen mit Jane Maples (viktorianischer) Haltung, ihrem Engagement und ihrer Loyalität gegenüber Familie, Freunden und Personal dazu geführt, dass die alte Dame für mich zu einer Romanfigur geworden ist, deren Geschichten ich schon seit Jahren immer wieder mit großer Freude lesen mag. Ich muss allerdings zugeben, dass ich noch keinen Miss-Marple-Roman auf Englisch gelesen habe und deshalb nicht sagen kann, ob man als deutscher Leser nicht schrecklich viele Facetten dieser Figur verpasst hat. Bei meinem Vergleich von „Sie kamen nach Bagdad/They Came to Baghdad“ hatte ich ja schon mal gezeigt, dass es da doch erschreckende Unterschiede bei den Ausgaben geben kann.
Auf eine Auflistung der Miss-Marple-Romane verzichte ich ausnahmsweise mal, da diese Informationen mit Leichtigkeit online oder in einem der Werke über Agatha Christie zu finden sind.
Wenn ich so lese, was du da über Miss Marple schreibst, liebe Winterkatze, ist sie mir fast schon richtig sympathisch. Wenn ich ihr dann aber wieder zwischen Bücherseiten begegne, nervt sie mich einfach nur. Schade eigentlich, aber Miss Marple und ich passen einfach nicht zusammen. Auch so was soll vorkommen.
es ist schon eine bildungsluecke, ich weiss, bislang nichts von christie gelesen zu haben. aber die zeit, die zeit …
Ach, liebe Winterkatze, es ist einfach herzergreifend, wie du Miss Marple quasi vor meinem Auge Leben einhauchst. Dass du Mitleid mit ihr hast, weil niemand in ihr mehr die junge, sehnsuchtsvolle Frau sieht, von der noch immer etwas in ihr stecken muss. Seufz! Jetzt würde ich doch gerne mal neben ihr stricken und einen Tee in ihrem blühenden Rosengarten trinken. LG Mila
@nantik: Ich habe schon gesehen, dass du mit "älteren" Krimis grundsätzlich ein Problem hast. Da kann man dann wohl leider nichts machen, auch wenn du (in meinen Augen) ganz viele großartige Perlen der Kriminalliteratur verpasst. 😉
@Natira: Du weißt ja, ich bin gern bereit dir da mal auszuhelfen. Und gerade die Kurzgeschichtenbände kann man sich so gut aufteilen. Den letzten habe ich im Arztwartezimmer gelesen … 😉
@Mila: Ich mag Miss Marple einfach schon schrecklich lange. 🙂 Und ich stelle es mir auch sehr schön vor mit ihr im Garten zu sitzen, zu stricken und dabei ihre Geschichten zu hören. Nur meine Rosen dürfte sie niemals zu Gesicht bekommen, denn für deren Zustand hätte sie vermutlich kein Verständnis. 😉
@Winterkatze: Oh nein, nicht grundsätzlich, liebe Winterkatze. Sir Arthur Conan Doyles Geschichten und Romane verehre ich zum Beispiel sehr. Ich kann nur nichts mit den (aus meiner heutigen Sicht) plumpen und platten Figuren anfangen, die einfach so durchrauschen. Dass sie die Zeit überlebt haben und noch heute ihre Anhänger finden, ist ja schön. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich sie auch gut finden muss, oder? Ich lese sie ja trotzdem – eben um hinterher sagen zu können, dass ich da nun wirklich nichts verpasst hätte. Und Patricia Highsmith oder Margaret Millar oder Joan Aiken mag ich wirklich sehr. Von einem grundsätzlichen Problem kann also höchstens die Rede sein, wenn es um zu konventionelle Figuren, Geschichten oder Stilistiken geht. Wobei das natürlich nur meine Meinung ist – aber genau die lasse ich mir nicht im Mund umdrehen. 😉
@nantik: Okay, dann hast du (angefangen) mit den "novel noir" Probleme. 😉 Dass du die Sherlock-Holmes-Geschichten liebst, ist wirklich unübersehbar. 🙂 Und nein, du musst keine Krimiklassiker gut finden, nur weil sie die Zeit überdauert haben – zum Glück hat ja jeder Leser seinen eigenen Geschmack!
Trotzdem wäre ich sehr gespannt, was du z.B. über "Der schwarze Engel" von Cornell Woolrich zu sagen hättest. Der Autor hat weniger den harten Privatdetektiv verwendet, sondern ganz normale Figuren geschaffen, um dann die Auswirkungen eines Verbrechens auf sie zu beschreiben.
Ich finde ja, Agatha Christie wird oft unterschätzt. So hat sie – finde ich – z.B. einen sehr guten Blick für Zwischenmenschliches, für das, was in einer kleinen Gemeinschaft wie einem Dorf so unterschwellig abgeht, und ich finde auch, dass sie durchaus Humor hat. Die Krimi-Literatur wäre ohne Miss Marple ganz eindeutig ärmer. Wobei ich allerdings zugeben muss, dass ich durchaus auch ein Fan der Margareth-Rutherford-Miss-Marple bin, obwohl diese Figur ja mit dem Original – außer dem Stricken – nicht so sehr viel gemein hat 😉 . LG Beate
@Beate: Ohja, sie hat eine Menge Humor, auch wenn der häufig nur sehr fein zum Ausdruck kommt. 🙂
Mit der Margareth-Rutherford-Miss-Marple kann ich wirklich nichts anfangen. Der Humor hat mich nicht einmal als Kind angesprochen! Grundsätzlich habe ich ein Problem mit "Literaturverfilmungen", bei denen man das Original nicht mehr erkennt. Dann hätte man doch besser eine eigene Geschichte daraus machen sollen, statt sich den Namen eines Autors oder einer Autorin zu "leihen". 😉
Ich mag zwar Agatha Christies Bücher generell, die Figur der Jane Marple war aber eigentlich nie so ganz meins. Liegt vielleicht daran, dass ich aus ner Kleinstadt komme und immer sehr genervt war von Leuten, die ihre Nase in die Angelegenheiten anderer Stecken, statt sich um ihren eigenen Kram zu kümmern. 😉
du weißt ja, dass ich die miss-marple-filme mit margret- rutherford mag 🙂 – irgendwann werde ich es sicher schaffen, eine miss-marple-geschichte zu lesen, zumal ich schon neugierig bin, ob mich die filme mit m. rutherford vielleicht sogar für die romane "verdorben" haben …
@Irina: Ich bin ja auch ein Landei, aber eine Frau wie Miss Marple ist mir bei uns nie begegnet. Aber ich fand die Nachbarin, deren Vorhang sich immer dezent öffnete und schloss, wenn man mit dem Hund vorbeiging, ja auch immer eher amüsant als lästig. 😉
@Natira: Ich bin mir sicher, dass du die Roman-Miss-Marple trotzdem zu schätzen weißt! 🙂 Du könntest dir ja zum Eingewöhnen meine DVD-Box leihen. ;D
Ich konnte mich über Nachbarn hinterm Vorhang sowie über Leute, die das Leben anderer überwachen und moralisch bewerten, nicht wirklich amüsieren – was vielleicht daran lag, dass meine Eltern mir ständig mit dem Spruch kamen: "Was sollen denn die Nachbarn/Leute denken, wenn …" 😉
Übrigens liebe ich die Rutherford-Verfilmungen auch, auch wenn sie überhaupt nichts mit den Büchern zu tun haben!
schaun wir mal 🙂
@Irina: Meine Eltern sind gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass unsere Nachbarn gucken könnten. ;D Dabei ist unser einer Nachbar nach jedem Sturm auf unser Dach geklettert, um nach lockeren Ziegeln zu gucken, weil er das meinem Vater nicht zutraute (oder wusste, dass der eh wieder im Ausland war). 😀