[Figurenkabinett] Miles Nailsmith Vorkosigan

Miles und ich habe uns an einem – für mich etwas einsamen – Abend in einer Buchhandlung kennengelernt. Es war einer dieser schönen Sommertage, an denen die Kollegen schon alles erledigt hatten und ich nur noch in der Abendschicht darauf warten konnte, dass sich vielleicht doch ein Kunde meiner erbarmt und ein Buch kauft. Zum Glück sah ich dann im Regal diesen Roman mit dem abgrundhässlichem Cover. Schon beim Auspacken der Neuerscheinungen hatte ich mich gefragt, wie ich dieses Buch jemals verkaufen sollte. An diesem Abend beschloss ich, einfach mal reinzulesen und zu gucken, wie die Geschichte so ist.

Dabei benötigte es nur wenige Seiten von „Der Kadett“ von Lois McMaster Bujold, um von Miles absolut hingerissen zu sein. Der junge Mann, dem ich da begegnete, hatte trotz extrem widriger Umstände eine Menge Haltung und Durchsetzungskraft. Er gehört zu den Charakteren, deren aberwitzige Ideen sich in dem Moment, in denen sie sie äußern, überaus stimmig und logisch anhören. Und wenn Miles sich für etwas begeistert, dann möchte man gleich mit ihm zusammen in die Schlacht ziehen und die Welt verändern. Obwohl er immer wieder von Selbstzweifeln geprägt ist, sind das Gefühle, die er nur mit sich und den Personen ausmacht, die ihm sehr nahe stehen. Etwas, das ihn realistisch, aber nicht wehleidig werden lässt – obwohl er auch dazu gute Gründe gehabt hätte. Außerdem scheint er jede Person ernst zu nehmen, unabhängig von Aussehen, Geschlecht und Rasse, was ihn zu einem hervorragenden Anführer und Diplomaten macht.

Miles Vorkosigan wurde sehr von der militärischen Gesellschaft geprägt, in der er aufgewachsen ist – und diese militärische Gesellschaft wurde geprägt von der Zeit, in der der Planet Barrayar keinen Kontakt zu anderen Planeten hatte, was dazu führte, dass Barrayar ein wenig hinterwäldlerisch wirkt. Obwohl Miles sich aufgrund eines Giftgasanschlags, der auf seine Mutter verübt wurde, als diese schwanger war, mit diversen körperlichen Problemen herumschlagen muss, möchte er unbedingt zum Militär gehen – wie sich das für einen Mann seines Standes gehört. Ihm ist bewusst, dass die Aufnahmeprüfung für die Militärakademie nicht allein mit seinem überlegenen Intellekt zu schaffen sein wird, aber er hätte nie erwartet, dass er – wortwörtlich! – schon an der ersten Hürde scheitern würde.

So findet er sich schnell in einem „Erholungsurlaub“ auf dem Heimatplaneten seiner Mutter Cordelia wieder, statt seine militärische Ausbildung anfangen zu dürfen. Aber Miles wäre nicht Miles, wenn er nicht sogar auf dem überaus zivilisierten Planeten Beta in Schwierigkeiten geraten würde. So stolpert er über einen verzweifelten Raumpiloten, der droht, mit seinem Raumschiff auf den Planeten zu stürzen, wenn jemand versuchen sollte, es ihm wegzunehmen, und mischt sich in die Angelegenheit ein. Nach einer erstaunlich kurzen und überraschenden Verhandlung endet es damit, dass Miles sich in Besitz eines alten Raumschiffs sieht, für eine kleine Mannschaft verantwortlich ist und dringend eine Möglichkeit finden muss, um Geld zu verdienen, damit er den Schiffskredit abbezahlen kann.

Miles‘ Unfähigkeit, sich aus schwierigen Situationen rauszuhalten, seine Hyperaktivität, seine ausgesprochen hohe Intelligenz und die Loyalität, die seine Leute – wider besseres Wissen – für ihn empfinden, sorgen für überaus amüsante Geschichten. Miles erlebt in verschiedenen (militärischen, privaten und diplomatischen) Missionen die unglaublichsten Dinge, steht im Laufe seines Lebens an der Spitze einer Söldnerarmee und sitzt immer wieder zwischen den Stühlen, wenn es um seine Treue zu seinem Kaiser und seiner Welt geht und um die Entscheidungen, die er bei seinen Reisen treffen muss.

Lois McMaster Bujold hat es mir im Laufe der Zeit ermöglicht, Miles von seiner Geburt (genau genommen sogar vom Kennenlernen seiner Eltern) an zu begleiten. Ich habe miterlebt, wie er mit all seinen körperlichen Beeinträchtigungen haderte, wie er sich das erste Mal verliebte, wie er dazu neigte, ständig Verantwortung für Dinge zu übernehmen, die nicht in seiner Hand lagen, und mich köstlich darüber amüsiert, wie jedes seiner Vorhaben eine unheimliche Eigendynamik entwickelte. Jeden Roman beginne ich – auch beim wiederholten Lesen – mit einer großen Neugier auf die Welt und die Figuren, die mir dort begegnen. Im Laufe der Geschichte werde ich immer atemloser und aufgedrehter vor Spannung und Lachen, und am Ende bin ich nach dem Lesen eines Miles-Vorkosigan-Romans immer vollkommen fertig, weil das Tempo der Handlung immer weiter anzieht und ich so mitgefiebert habe. Dabei sind die Geschichten nicht nur spannend und lustig, sondern auch voller kritischer Sichtweisen auf Rollenklischees – auch oder gerade in der Science Fiction – oder gesellschaftliche Traditionen.

Es gibt eigentlich nur ein einziges Problem, wenn man Miles Abenteuer erleben möchte:
Die fürchterliche Veröffentlichungspolitik der Autorin und der Verlage!

Ich kann verstehen, dass Lois McMaster Bujold ihre Geschichten nicht chronologisch schreibt, aber es ist fast unmöglich, den Überblick über die Reihenfolge der Romane und zusätzlich erschienenen Kurzgeschichten zu behalten. Der Heyne-Verlag hat mal versucht, die Bücher und Geschichten chronologisch in Sammelbänden zusammen zu fassen, aber nicht einmal diese Ausgabe ist vollständig. Wer also nun Interesse an Miles entwickelt hat, darf sich entweder einen ersten Einblick verschaffen, in dem er versucht, gebraucht „Der junge Miles“ (Heyne-Sammelband mit den ersten beiden Miles-Geschichten) oder „Der Kadett“ (scheußliches Cover, so ein scheußliches Cover!) aufzutreiben, oder indem er sich durch das verwirrende englischsprachige Angebot wühlt. 😉

2 Kommentare

  1. Liebe Winterkatze, eigentlich hört sich das alles so überhaupt nicht nach einem Buch für mich an (Söldnerarmee? Schlachten? Planeten? Graus!), aber Miles ist mir sehr sympathisch geworden. Allerdings frage ich mich schon, wieso du bei dem Cover (meine Augen tun jetzt noch weh) reinlesen konntest… LG Mila

  2. Liebe Mila, wenn Science Fiction und Schlachten so geschrieben werden, dann bin ich mir sicher, dass auch du dich gut unterhalten würdest. 😉 Miles ist eine tolle Figur und die Personen in seinem Umfeld nicht weniger! Das Cover allerdings schreckt wirklich nur ab und ich frage mich bis heute, wie der Verlag sich dazu durchringen konnte.

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