Nachdem Neyasha im vergangenen Dezember so begeistert über „The Lost Man“ von Jane Harper geschrieben hatte, hatte ich mir direkt das eBook besorgt. Da aber die Autorin nicht gerade die heimeligsten Geschichten schreibt, hat es eine Weile gedauert, bis ich Lust auf diese Art von Roman hatte. „The Lost Man“ gehört nicht zu den Veröffentlichungen rund um den Polizisten Aaron Falk („Hitze“ und „Ins Dunkel“), sondern ist ein eigenständige Geschichte, die aus der Perspektive von Nathan Bright erzählt wird. (Allerdings gibt es einen kleinen Verweis auf Aaron Falks Geburtsort Kiewarra, aus dem auch Nathans Mutter stammt.) Die Handlung in „The Lost Man“ beginnt damit, dass Nathan und sein jüngerer Bruder Bub vor einem alten Grabstein am Rande einer australischen Wüste im Südwesten von Queensland stehen – und neben diesem Grabstein liegt die Leiche ihres gemeinsamen Bruders Cameron. Schnell steht fest, dass Cameron der Hitze zum Opfer gefallen ist und dass sein Tod grauenhaft war.
Doch vor allem lässt Nathan die Frage nicht los, wieso Cameron überhaupt sein Auto verlassen hatte und das auch noch, ohne jegliche Wasservorräte mit sich zu führen. Die Rätsel rund um Camerons Tod führen dazu, dass Nathan sich nicht nur mit dem Leben seiner Familienmitglieder – die er seit Monaten nicht mehr gesehen hatte – auseinandersetzen muss, sondern auch mit seiner eigenen Vergangenheit. Jane Harper schreibt Geschichten von Menschen, die in unmenschlichen Umgebungen versuchen, sich ihre Menschlichkeit zu bewahren – und häufig genau daran scheitern. So gab es vor zehn Jahren in Nathans Leben einen Moment, in dem er eines der eisernen Gesetze seiner Gemeinschaft verletzte und dafür von seinen Nachbarn aus eben dieser Gemeinschaft ausgeschlossen wurde. Was genau Nathan damals getan hat, verschweigt Jane Harper ziemlich lange, und ich muss gestehen, dass ich deshalb im Laufe der Zeit mit der Autorin ziemlich ungeduldig wurde. Es ist für mich vollkommen in Ordnung, wenn Elemente verschwiegen werden, weil der Erzähler selbst keine Details weiß. Aber hier wusste so gut wie jeder Charakter, was Nathan damals getan hat, aber trotzdem wird lange drumherumgeredet, um künstlich Spannung aufrecht zu halten. So haben mich in dieser Phase vor allem die ungemein atmosphärischen Beschreibungen des Lebens am Rande einer Wüste bei der Stange gehalten.
Hier fand ich es sehr schön, wie Jane Harper Informationen, die Nathan und sein Bruder dem ortsfremden Polizisten zukommen lassen, als dieser sich den Schausplatz von Camerons Tod anschaut, mit kleinen Gedanken und Nebenbemerkungen des Erzählers mischt. So wird schnell deutlich, dass es bestimmte Dinge gibt, die kein Einheimischer vernachlässigen oder vergessen würde, so wie es zum Beispiel selbstverständlich ist, dass bei solch gefährlichem Gelände niemand nachts mit dem Auto fährt oder dass für eine zweitägige Fahrt ein ganzer Kofferraum voller Wasserflaschen und Nahrungsmittel mitgenommen wird. Immer wieder gibt es diese kleinen Momente, die zeigen, wie selbstverständlich die Gefahren eines solchen Lebens für die Einheimischen sind, während sich mir bei dem Gedanken, dass es im Notfall im optimalsten Fall mindestens drei Stunden dauern würde, bis Hilfe aus der nächsten Stadt eintreffen könnte, der Magen umdreht. All diese Details lassen einen nur zu gut nachvollziehen, wieso ein solches Leben die besten und die schlimmsten Seiten eines Menschen zum Vorschein bringen kann. So ist es auch nicht besonders überraschend, dass Nathan und seine Brüder selbst keine besonders glückliche Kindheit hatten, und auch wenn er selbst nicht die gleichen Fehler wie sein gewalttätiger Vater begangen hat, hat er dafür mit anderen Problemen zu kämpfen.
Ich will beim besten Willen nicht behaupten, dass „The Lost Man“ eine schöne Geschichte ist. Es gibt so viele zutiefst deprimierende und frustrierende Elemente, wenn es um den Schatten geht, den Nathans seit langem verstorbener Vater bis zum aktuellen Tag auf die gesamte Familie wirft. Aber ich fand es schön zu verfolgen, wie Nathan sich im Laufe des Romans weiterentwickelt hat. Je mehr er sich mit dem Tod von Cameron, mit den Problemen seiner Familie und sogar mit seinem Verhältnis zu seiner Ex-Frau Jacqui und seinem Sohn Xander auseinandersetzt, desto eher scheint er in der Lage zu sein, auch mal positive Gedanken und Gefühle zuzulassen. Wirkt Nathan anfangs geradezu lebensmüde, nach all den Jahren, die er isoliert von der Gemeinschaft verbracht hat, so führen all die Ereignisse rund um Camerons Tod dazu, dass er so langsam in der Lage ist, sich (und anderen) zu verzeihen und in die Zukunft zu blicken. So steht für mich in diesem Roman nicht Camerons Tod, sondern Nathans Entwicklung im Mittelpunkt der Geschichte, was dazu führt, dass ich es auch nicht schlimm fand, dass so viele „überraschende“ Wendungen rund um Camerons Ableben für mich deutlich leichter vorhersehbar waren als die Handlungsentwicklungen in den anderen beiden Büchern von Jane Harper. Die Autorin hat wirklich ein Händchen für realistische Charaktere voller Graustufen ebenso wie für wunderbar atmosphärische Beschreibungen des Lebens in den unwirtlicheren Ecken Australiens und hat es damit auch bei „The Lost Man“ geschafft, mich damit so sehr zu packen, dass ich den Roman zügig gelesen habe, obwohl ich ein paar andere Aspekte in dieser Geschichte nicht ganz so gelungen gefunden habe.
Ich freue mich, dass dir Roman ebenfalls gefallen hat, auch wenn manche Aspekte dich nicht ganz so überzeugt haben. Ob mich das lange (künstliche) Verschweigen des Geheimnisses beim Lesen gestört hat, könnte ich gar nicht mehr sagen. Mir haben hier auch die Charaktere und die Atmosphäre der Wüste besonders gut gefallen. Außerdem finde ich es schön, dass ich bei Jane Harpers Krimis wirklich Anteil an den Schicksalen und der Entwicklung der Charaktere nehme.
Vielleicht lese ich diesen Herbst mal „The Survivors“. Und ich habe gerade gesehen, dass im Februar 2023 endlich ein neuer Aaron-Falk-Krimi erscheint. 🙂
Um „The Survivors“ schleiche ich auch gerade ein bisschen herum und von dem nächsten Aaron-Falk-Krimi hatte ich noch gar nichts mitbekommen – gut zu hören, dass die Autorin da noch weiterschreibt. 🙂
Die Charaktere und die Wüste sind schon die hervorstechensten Elemente in „The Lost Man“ und haben den Roman für mich auch locker über jeden Kritikpunkt hinweggetragen. Ich finde es immer wieder spannend, wie sehr mich die Autorin mit einer Landschaft fesseln kann, die mich an sich überhaupt nicht reizt. *g*