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Hallie Rubenhold: The Five – The Untold Lives of the Women Killed by Jack the Ripper

Auf das Erscheinen der Taschenbuch-Ausgabe von „The Five“ von Hallie Rubenhold habe ich schon gewartet, als die Hardcover-Version noch gar nicht veröffentlicht war, weil ich den Ansatz, den die Historikerin für ihr Buch gewählt hat, einfach großartig finde. „The Five“ dreht sich um die „kanonischen“ fünf Opfer von Jack the Ripper und darum, dass die Faszination darüber, dass man die Identität des Mörders nie aufgedeckt hat, seit über 130 Jahren vollkommen die Tatsache überdeckt, dass da fünf Frauen getötet wurdet, die mehr waren als eine Seitenbemerkung in einem spektakulären Fall. Die Namen von Mary Ann Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddowes und Mary-Jane Kelly kennt wohl jeder, der jemals etwas über den Ripper gelesen hat, doch in all der Berichterstattung über die Mordfälle sind diese Namen nicht mehr als Teil einer Liste von Opfern.

Hallie Rubenhold hingegen hat sich in ihrem Buch auf das Leben dieser fünf Frauen konzentriert, wobei die Autorin damit beginnt, dass sie die Lebensumstände der Menschen in London im Jahr 1887 näher beleuchtet. Um die Tatsache, dass in diesem Jahr das goldene Thronjubiläum von Königin Viktoria gefeiert wurde, kommt man eigentlich kaum herum, wenn man sich mit dieser Zeit beschäftigt. Doch Hallie Rubenhold verweist nicht nur auf die überbordenden Feierlichkeiten, sondern auch darauf, dass in diesem wunderschönen Sommer die große Trockenheit für Missernten sorgte, die – zusätzlich zur schon herrschenden Rezession – viele Menschen vom Land in die Stadt trieben. Doch in den Städten herrschte nicht nur große Arbeitslosgkeit, sondern auch akuter Wohnungsmangel, so dass viele Personen sich gezwungen sahen, unter freien Himmel zu übernachten. Auf dem Trafalgar Square hatte sich ein regelrechtes Lager von obdachlosen Personen gebildet, die in all diesen Menschenmengen irgendwie überleben mussten. Im November 1887 führten die Bemühungen der Obrigkeit, gegen diese Ansammlung „potenzieller Umstürzler“ vorzugehen, zum „Bloody Sunday“, doch damit endeten die Unruhen rund um den Trafalgar Square noch lange nicht.

Auch Mary Ann „Polly“ Nichols war unter denen, die auf dem Trafalgar Square Unterschlupf gefunden hatten. Anhand von Volkszählungsdaten, Zeitungsberichten und Zeugenaussagen von Angehörigen und Bekannten rekonstruiert Hallie Rubenhold das Leben einer Person, die für eine Frau ihrer Zeit und Schicht in den ersten Jahrzehnten ihres Lebens eine relativ sichere Existenz führte. Erst als Polly die finanzielle Absicherung durch ihre Familie verlor, musste sie sich mit schlechtbezahlten Jobs und Betteln über Wasser halten – was dazu führte, dass sie sich regelmäßig keine Unterkunft für die Nacht leisten konnte und auf der Straße übernachtete. Annie Chapman hingegen war die Tochter eines Dienstmädchens und eines Soldaten und profitierte als solche von der Schulausbildung, die die Armee für die Kinder ihrer Soldaten zur Verfügung stellte. Überhaupt hatte Annie lange Zeit immer die besten Vorraussetzungen für ihr Leben, und doch verbrachte sie die Jahre vor ihrem Tod in einem Viertel, das für die Armut seiner Bewohner und seine Gefährlichkeit berühmt war.

Elizabeth Strides Lebensweg hingegen begann auf eine kleinen Bauernhof in Schweden, und obwohl Hallie Rubenhold viele Stationen von Elizabeths Leben nachverfolgen konnte, gibt es relativ wenig Details über sie und über die Personen, die dafür gesorgt haben, dass ihr Leben immer wieder einen unliebsamen Verlauf nahm. Über Catherine „Kate“ Eddowes‘ Leben ist hingegen wieder erstaunlich viel bekannt, von ihrer Kindheit in London (inklusive des Besuchs einer recht angesehenen Schule), den Jahren, die sie nach dem Tod ihres Vaters in der Obhut von Verwandten verbrachte, über die folgenden Jahren, in denen sie gemeinsam mit dem Mann, den sie als ihren Ehemann ansah, durchs Land zog und Balladen u.ä. Schriften vortrug und verkaufte, bis zu ihren letzten Lebensjahren, in denen ihr Verhalten zu einer fast vollständigen Trennung von ihrer Familie gesorgt hatte. Über Mary-Jane Kellys Leben hingegen gibt es so gut wie keine Informationen, und so basiert der Großteil der Dinge, die man heute noch über ihr Leben weiß, auf den Aussagen des Mannes, mit denen sie in den Monaten vor ihrem Tod zusammenlebte. Doch egal, wie viel oder wenig (belegbare) Daten Hallie Rubenhold über diese fünf Frauen zusammentragen konnte, in jedem einzelnen Kapitel wird deutlich, dass jede von ihnen ein Individuum mit ganz persönlichen Vorlieben und Abneigungen war, eine Person, über die es mehr zu erzählen gibt als nur die Umstände ihres Todes.

Ergänzt werden all diese Rechercheergebnisse durch Berichte von Zeitzeugen wie zum Beispiel dem Abgeordneten und Sozialreformer Charles Booth oder Mary Higgs, die sich als obdachlose Frau verkleidete, um aus erster Hand die Lebensumstände der Personen zu erleben, denen sie mit den Wohlfahrtsorganisationen, denen sie angehörte, helfen wollte. Diese Beobachtungen und Erlebnisse zeichnen nicht nur ein klares und häufig erschütterndes Bild vom Leben der ärmsten Bevölkerungsschicht im London dieser Zeit, sondern untermauern auch Hallie Rubenholds Theorie, dass weniger der reale Lebenswandel dieser Frauen, sondern die Vorurteile einer viktorianischen Gesellschaft (inklusive der ermittelnden Polizisten) und das Bedürfnis der Presse nach reißerischen Schlagzeilen dafür sorgten, dass alle Opfer von Jack the Ripper von Anfang an als Prostituierte angesehen wurden. Eine Frau, die ohne Ehemann oder zumindest den Schutz ihrer Familie (über)leben musste, konnte in den Augen dieser Zeit keine ehrbare Frau sein – und so hat sich der Mythos von den „Prostituiertenmorden“ des Jack the Ripper bis in die heutige Zeit gehalten.

Am Ende nehme ich aus „The Five“ nicht nur viele Details über das Leben von Mary Ann Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddowes und Mary-Jane Kelly mit, sondern auch sehr viele Informationen über das Leben in der viktorianischen Zeit. Ich finde es (immer wieder erneut) erschütternd, wie schnell eine Frau nach dem Tod ihres Vaters oder Ehemannes in die Armut abrutschen konnte und wie unmöglich es für Frauen war, sich selbst und eventuelle Kinder zu ernähren. Doch vor allem ist es das Bewusstsein dafür, dass wir uns trotz aller Bemühungen um Gleichberechtigung, fairer Bezahlung und sozialer Absicherung immer noch nicht besonders weit von den Umständen und dem Denken der viktorianischen Zeit entfernt haben, das mich beim Lesen immer wieder innehalten ließ. So hat Hallie Rubenhold meiner Meinung nach nicht nur diesen fünf Opfern von Jack the Ripper mit ihrem Buch ihre Würde zurückgegeben, sondern auch jeder Person gute Argumente geliefert, die sich für die Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der verschiedenen Geschlechter einsetzt.