„Wer die Nachtigall stört …“ von Harper Lee wurde von mir im Rahmen der „100 Bücher“-Challenge gelesen. Er ist wieder einer dieser Romane, von denen ich schon so viel gehört habe, den ich aber von mir aus vermutlich nicht so schnell gelesen hätte. Ich finde es immer wieder bedauerlich, dass mir inzwischen die Offenheit gegenüber diesen „Klassikern“ fehlt, die ich als Kind hatte. Mit zwölf Jahren hatte ich alle Bereiche in unserer kleinen Stadtbibliothek durch, die mich interessierten, und habe mich danach einfach auf die übrigen Regale gestürzt und systematisch alles angeguckt, das ich nicht kannte. So habe ich in den folgenden Jahren auch viele Klassiker für mich entdeckt und mich quer durch die verschiedenen Stilrichtungen und Zeiten gelesen. Inzwischen – so fürchte ich – habe ich eine Menge vorgefasste Meinungen über viele der Bücher, die man „gelesen haben sollte“ und greife stattdessen in der Regel lieber zu Fast-Food-Geschichten als zu einem Klassiker.
So hätte ich wohl auch nicht so schnell zu „Wer die Nachtigall stört …“ gegriffen, obwohl mir der Roman wirklich gut gefallen hat. Erzählt wird die Geschichte von der (anfangs) sechsjährigen Jean Louise „Scout“ Fink, die gemeinsam mit ihrem vier Jahre älteren Bruder Jem die kleine Stadt Maycomb unsicher macht. Und während ich über die Handlung immer nur gehört hatte, dass es sich um Rassentrennung und die Ungleichbehandlung zwischen Schwarz und Weiß handelt, dreht sich der Roman doch vielmehr um die großen und kleinen Erlebnisse, die Scout und ihr Bruder in ihrer Kindheit haben. Dass dabei auch die Tatsache eine Rolle spielt, dass ihr Vater als Rechtsanwalt – gegen den Widerstand seiner Familie und zum Entsetzen der „ehrbaren“ weißen Bevölkerung – einen Schwarzen verteidigt, fällt anfangs gar nicht so sehr ins Auge, sondern gehört eher zur Charakterbeschreibung von Scouts Vater Atticus Fink.
Erst im zweiten Teil des Buches bekommt man als Leser mehr über den Fall und die Gerichtsverhandlung mit, und hier gelingt es der Autorin, Stück für Stück mit erschreckender Deutlichkeit die Unschuld des Angeklagten aufzuzeigen, während einem weiterhin bewusst ist, dass an diesem Ort und zu dieser Zeit ein Freispruch für einen schwarzen Mann einfach nicht geschehen wird. Ich fand es überraschend angenehm, all diese Geschehnisse durch Scouts Augen zu erleben. Sie saugt zwar in kindlicher Neugier alle Details in sich auf, beschreibt Dinge, die ein Erwachsener vielleicht nicht als relevant empfinden wurde, aber ist doch erst einmal distanziert.
Scout fällt es schwer, das Gesehene und Erlebte zu bewerten, und sie denkt nicht in den gleichen Schubladen wie die Erwachsenen in ihrer Umgebung. Stattdessen scheint sie erst einmal alles hinzunehmen, um es später in einen – für sie logischen – Zusammenhang zu bringen. Das sorgt auf der einen Seite dafür, dass ich mich als Leser nicht so persönlich betroffen fühle und mehr Raum habe, um die treffenden Charakterbeschreibungen und die Atmosphäre auf mich wirken zu lassen. Auf der anderen Seite zeigt diese Erzählweise überdeutlich, wie widersinnig eine solch rassistische Haltung ist – und leider auch, wie wenig ein einziger ehrbarer Mann gegen die Tyrannei der Masse bewirken kann.
Abgesehen davon, dass das eine wirklich tolle Art ist, um so eine Geschichte zu erzählen, hat Harper Lee auch ein Händchen für Figuren. Scout und Jem sind neu- und wissbegierige Kinder, und vor allem Scout fällt es oft schwer, all die Wissensbrocken und gesellschaftlichen Regeln richtig zuzuordnen. Die beiden stecken – ebenso wie ihr Freund Dill – voller Einfälle, Herausforderungen und Streiche, ohne dass sie bewusst boshaft handeln würden. Ihr Vater Atticus ist eine wunderbare Figur, auch wenn er sich für mich nicht wirklich real anfühlte, da er mir manchmal einfach zu gut war. Nicht fehlerfrei, aber dafür stoisch, gerecht, höflich und mit genügend Rückgrat, um für seine Überzeugungen einzustehen. Ein Ideal, an dem man sich orientieren kann, aber keine für mich wirklich greifbare Person.