Die Handlung in „Long Lost“ von Jacqueline West wird aus Sicht der elfjährigen Fiona erzählt, die gerade mit ihrer Familie in den kleinen Ort Lost Lake gezogen ist. Fiona ist nicht gerade glücklich mit diesem Umzug, weil dieser bedeutet, dass sie all ihre Freunde (und sie schließt nicht gerade leicht Freundschaften) zurücklassen musste, nur damit ihre ältere Schwester Arden besseren Zugang zu ihrem Eiskunstlauf-Training hat. Überhaupt hat Fiona das Gefühl, dass sich in der Familie alles um die dreizehnjährige Arden dreht, während sie selbst und ihre Bedürfnisse ständig übersehen werden. Einziger Lichtblick in Lost Lake ist die Öffentliche Bibliothek, die sich in einem ehemaligen Herrenhaus befindet. Vor allem ein Buch mit dem Titel „The Lost One“, das die Geschichte der beiden Schwestern Hazel und Pearl erzählt, hat es Fiona angetan. Je mehr Fiona über das Buch herausfindet, desto sicherer ist sie sich, dass die Handlung in „The Lost One“ von einer wahren Begebenheit in Lost Lake erzählt. Doch bevor Fiona das Ende lesen kann, verschwindet das mysteriöse Buch, und die Bibliotheksleiterin versichert ihr glaubhaft, dass es einen solchen Titel niemals im Bestand der Bibliothek gab.
Ich habe „Long Lost“ wirklich gern gelesen und es genossen, mit Fiona zusammen mehr über Hazel und Pearl zu erfahren – und darüber, wie eine der beiden Schwestern verschwand. Es gelingt Jacqueline West, über lange Zeit hinweg offen zu lassen, ob etwas Übernatürliches in Lost Lake vor sich geht oder ob Fionas Fantasie mit ihr durchgeht, während es ganz einfache Erklärungen für all die Vorgänge gibt, die sie so sehr beschäftigen. Ich mochte dieses Miträtseln und ich habe Fionas Perspektive gern verfolgt. Die Protagonistin hat mir wirklich leidgetan, weil sie niemanden hatte, mit dem sie reden konnte. Sie vermisst die ganze Zeit über ihre Freunde, und jedes Mal, wenn ihre Eltern ihr etwas versprechen, dann wird sie von ihnen im Stich gelassen. Das hat dazu geführt, dass ich sehr gut verstehen konnte, wieso sie sich so von ihrer Familie missachtet fühlt und wieso sie irgendwann ihren Gefühlen Luft machen muss – auch wenn Fiona sich da alles andere als nett verhält. Vor allem fand ich es spannend, dass ich mich die ganze Zeit beim Lesen gefragt habe, ob ich die Geschichte als jüngere Leserin anders wahrgenommen hätte. Denn so sehr ich mit Fiona mitfühlte, so konnte ich als erwachsene Leserin doch verstehen, dass die ganze Situation auch für ihre Eltern und ihre ältere Schwester Arden ziemlich schwierig ist.
Dazu mischen sich den gesamten Roman hindurch Fionas Erlebnisse mit denen von Hazel und Pearl, und das sorgt für eine faszinierende Lektüre. So wie die Handlung nur aus Fionas Sicht erzählt wird, erfährt sie von den Ereignissen rund um die beiden Schwestern nur aus Pearls Perspektive. Um der Wahrheit auf den Grund gehen zu können, muss Fiona irgendwann die Geschehnisse in Frage stellen, die Pearl beschreibt, und die Entwicklung, die das in Fiona auslöst, habe ich sehr gern verfolgt. Jacqueline West hat wirklich ein Händchen dafür, Geschichten mit lauter kleinen unheimlichen Elementen zu schreiben, die einen immer wieder an all den rationalen Erklärungen zweifeln lassen, die doch so offensichtlich zu sein scheinen. Dazu kommen wunderbar atmosphärische Beschreibungen des trostlos wirkenden Ortes Lost Lake und Charaktere, die so realistisch wirken, dass sie mich auch dann nicht ganz losgelassen haben, wenn ich eine Lesepause einlegen musste. Nachdem mir „Long Lost“ so gut gefallen hat, frage ich mich ehrlich gesagt, ob ich mir „Olive und das Haus der Schatten“ – ein Jacqueline-West-Titel, den mir Natira vor einigen Jahren geliehen hatte – noch einmal im Original anschauen (und vielleicht auch noch die Fortsetzungen lesen) sollte.