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Joël Dicker: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Auch „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ von Joël Dicker habe ich über Caroline entdeckt und dann überraschend schnell in der Bibliothek ausleihen können. Der Roman wird aus der Perspektive des Schriftstellers Marcus Goldman erzählt und beinhaltet mehrere miteinander verwobene Geschichten. Die Handlung dreht sich um die Frage, wer die junge Nola vor 33 Jahren ermordet hat, sie erzählt von der Freundschaft zwischen dem Autor Harry Quebert und Marcus Goldman, von all den Menschen, die durch Harrys Ankunft in dem kleinen Ort Aurora beeinflusst wurden und von denen, deren Leben durch Nolas Verschwinden sich veränderte. Außerdem erzählt der Roman von der Liebe zwischen Nola und Harry, von den kleinen Entscheidungen, die ein ganzes Leben beeinflussen können , von Verlust und von mehreren Büchern, die Marcus Goldman geschrieben hat.

Dabei beginnt für Marcus alles an dem Tag, an dem er von Harry einen Anruf erhält, in dem dieser ihm mitteilt, dass auf seinem Grundstück die Leiche der siebzehnjährigen Nola gefunden und er wegen Mordes verhaftet wurde. Für Marcus ist die Vorstellung absurd, dass Harry einen Mord begangen haben soll, auch wenn er wusste, dass sich der damals 34jährige Harry vor 33 Jahren in die junge Nola verliebt und eine Beziehung mit ihr geführt hatte. So macht sich der Schriftsteller auf in den kleinen Ort Aurora, um mehr über Nola herauszufinden und Harrys Unschuld zu beweisen.

In Aurora ist Marcus aufgrund seiner langen Freundschaft mit Harry kein Unbekannter, doch immer wieder lassen ihn die Einwohner spüren, dass er auch keiner von ihnen ist. Je mehr er in der Vergangenheit gräbt, je mehr er über Nola – und ihre Beziehungen zu ihrer Familie, ihren Nachbarn, ihren Mitschülern und ihrer Arbeitgeberin – herausfindet, desto mehr wird Marcus angefeindet. Immer wieder macht Marcus überraschende Entdeckungen und auch wenn nicht jede Wendung für mich ebenso überraschend war, so gelingt es Joël Dicker so viel Spannung und so viel Sympathie mit den Figuren aufzubauen, dass es mir keinen Moment lang beim Lesen langweilig wurde.

Der Autor hat eine sehr liebevolle Art mit seinen Charakteren umzugehen. Selbst Figuren, die auf den ersten Blick klischeehaft oder unsympathisch aufgebaut wurden, haben Facetten an sich, die dazu führen, dass man sie nicht verurteilt und dass man eigentlich gern von ihnen liest. Marcus Goldman zum Beispiel beschreibt sich selber als jemanden, der sich in seiner Jugend immer so durchlaviert hat, als jemanden, der immer den leichtesten Weg wählte, um sich im bestmöglichen Licht dazustellen, und auch sein Verhalten nach dem Erfolg seines ersten Romans zeigt deutlich, dass er immer noch jemand ist, der Schwierigkeiten damit hat einen „erwachsenen“ Umgang mit Situationen zu finden. Auf der anderen Seite ist da sein Glaube an seinen Freund und Mentor Harry, seine Hartnäckigkeit bei der Suche nach der Wahrheit und letztendlich auch Bedürfnis das „Richtige“ zu tun, so dass man ihn nur schwer für seine Fehler verurteilen kann.

Ebenso ergeht es einem mit Harry Quebert, dessen Beziehung zu einem gerade mal siebzehnjährigen Mädchen weder aus rechtlicher, noch aus moralischer Sicht akzeptable ist – und doch gelingt es Joël Dicker für den Leser nachvollziehbar zu machen, warum sich Harry in dieses Mädchen verliebt hat. Die ganze Vielfalt der Charaktere, mit all ihren Stärken und Schwächen, hat mich wirklich fasziniert. Ich habe mir Gedanken über die gealterte Schönheitskönigin und ihre unerfüllten Träume gemacht, ich hatte Mitleid mit einem jungen und überaus schüchternem Polizisten, ich habe um das zerstörte Leben eines jungen Malers geweint und mich gefragt, welche dieser vielen kleinen Enthüllungen in einem Gespräch nun Marcus auf seiner Suche nach der Wahrheit weiter bringt.

Wirklich neu ist die Geschichte nicht und die Überfrachtung mit so vielen Themen wäre bei einer weniger ruhigen Erzählweise vermutlich viel zu viel geworden, ebenso wie die eher belanglosen Schreibtipps, die Harry Marcus im Laufe der Zeit gibt, aber dank der eher gemächlichen und immer wieder abschweifenden Erzählweise habe ich „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ sehr genossen. Ich habe mich in all den kleinen Dramen verloren, habe die Beschreibungen der Stadt, des Strands und der vielen kleinen zwischenmenschlichen Momente gemocht und mich auch immer wieder von dem Roman an andere Bücher (oder Filme) erinnern lassen.