Durch Hermias Rezension bin ich vor ein paar Wochen auf „Das rote Schaf der Familie – Jessica Mitford und ihre Schwestern“ von Susanne Kippenberger gestoßen und konnte die Biografie dann auch recht schnell aus der Bibliothek ausleihen. „Das rote Schaf“ ist die Bezeichnung, die Jessica „Decca“ Mitford für sich selber passend gefunden hatte und auch gern für ihre erste Autobiografie als Titel verwendet hätte – und um sie dreht sich diese Biografie. Aber man kann nicht über Decca Mitford schreiben, ohne dabei auch über die restliche Familie Mitford zu reden. Ich finde es spannend, dass mir bis vor kurzem der Name Mitford so gar nichts sagte, (auch wenn ich jetzt im Nachhinein einige Anspielungen auf die Familie in britischen Veröffentlichungen wiedererkenne), obwohl die Familie in Großbritannien aus gutem Grund überaus bekannt ist.
Decca wurde 1917 geboren und erlebte so nicht nur den Spanischen Bürgerkrieg, den Zweiten Weltkrieg, die Kommunistenhatz und die Rassenunruhen in den USA, ebenso wie den Protest gegen den Vietnamkrieg und vieles andere, das das vergangene Jahrhundert politisch geprägt hat, sondern sie hatte auch zu all diesen politischen Ereignissen eine ausgeprägte Meinung. Als Sprössling einer – nicht gerade reichen (der Vater hatte kein Händchen für Geschäfte) – britischen Adelsfamilie wuchs Decca inmitten einer großen und turbulenten Familie und unter nicht ganz gewöhnlichen Umständen auf. So verweigerten die Eltern ihren sechs Töchter den Schulbesuch (während der einzige Sohn selbstverständlich ein Internat besuchte) und schotteten sie insgesamt von der Außenwelt ab (wenn man von den Besuchen der weitläufigen Verwandtschaft absieht) bis es Zeit wurde für die Präsentation als Debütantin in der Londoner Gesellschaft.
Vielleicht ist es angesichts dieser Kindheit nicht verwunderlich, dass sich die sechs Mädchen (großteils) recht extrem entwickelten. Während sich die älteste Mitford-Schwester Nancy einen Namen als Autorin machte (und ihr Leben lang verzweifelt versuchte Beziehungen mit Männern zu führen, die sie nicht liebten,) und die zweite Schwester Pam als Kind davon träumte ein Pferd zu sein, wurde die dritte Schwester Diana zur Geliebten (und späteren Ehefrau) des Gründers der ersten nationalistischen Partei Großbritanniens und zur großen Verehrerin Hitlers. Letzteres führte dann wohl auch dazu, dass die vierte Schwester Unity sich zu einem der größten „It-Girls“ der Nazis entwickelte und alles tat, um ihre Freundschaft zu Hitler und seinen Bundesgenossen zu fördern. Im Gegensatz zu diesen beiden Schwestern setzte sich Decca schon früh für kommunistische Ideen ein, was letztendlich dazu führte, dass sie – noch nicht einmal volljährig – mit ihrem Cousin und späteren Ehemann Esmond davon lief, um über den Spanischen Bürgerkrieg zu berichten. Um die jüngste Schwester dieser Familie nicht unter den Tisch fallen zu lassen, sei hier auch noch erwähnt, dass Debo (Deborah) einen Herzog heiratete und maßgeblich daran beteiligt war einen der größten und bekanntesten Herrensitze Englands zu erhalten.
Ich fand diese Mischung aus privaten Details über Decca, aber auch den ganzen großen Rest ihrer Familie (weil man eine Mitford-Schwester eben nicht ohne die anderen porträtieren kann), und politischen Engagement und Ereignissen sehr spannend zu lesen. Dabei hatte ich nicht das Gefühl, dass Susanne Kippenberger etwas beschönigen würde. Decca Mitford muss eine faszinierende, aber auch sehr schwierige Person gewesen sein. Eine Frau, der ihr politisches Engagement extrem wichtig war, während sie in vielen anderen Bereichen des Lebens eine unbekümmerte Haltung an den Tag legte, und ein Mensch, der nicht so leicht verzeihen konnte. So hat sie zum Beispiel während des Zweiten Weltkriegs den Kontakt zu ihrer Schwester Diana und ihrem Vater abgebrochen und nie wieder richtig aufgenommen, weil diese mit den Nazis sympathisierten, hatte aber trotzdem – solange diese lebte – ein überraschend gutes Verhältnis zu Unity, der sie ihre Heldenverehrung für die deutschen Kriegstreiber anscheinend problemlos verzeihen konnte.
Ihr politisches Engagement und ihre (oft überspitzten) Veröffentlichungen sorgen dafür, dass man anhand von Deccas Leben ein überraschend umfassendes Bild der Zeit von 1935 bis in die 90er bekommt. Spannend fand ich auch die Zusammenarbeit zwischen Decca und ihrem zweiten Mann Bob Treuhaft, der ein jüdischer Anwalt und – ebenso wie Decca – während der McCarthy-Ära Mitglied der kommunistischen Partei war und später die Bürgerrechtsbewegung mit seiner Arbeit unterstützte. Hermia schrieb in ihrer Rezension, dass man bei einem Roman ein solches Leben als unrealistisch abgetan hätte und sie hat da natürlich recht. Aber bei einer Biografie ist es nur faszinierend, wie viel diese Frau erlebt hat und wie viele Menschen sie gekannt hat, deren Namen aus den Geschichtsbüchern nicht mehr wegzudenken sind. Dabei gelingt es Susanne Kippenberger in der Regel ganz gut mit all den Informationen und Personen zu jonglieren, ohne den Leser zu überfordern (nur Anfangs hatte ich etwas Probleme dank der vielen Spitznamen, die die Mitford-Schwestern auch füreinander hatten), und ein realistisch wirkendes Bild von den verschiedenen Menschen zu zeichnen, ohne sie zu sehr zu verteufeln oder zu erhöhen.
Meine beiden größten Kritikpunkt an der Autorin sind vielleicht die, dass Susanne Kippenberger 1. Agatha Christies Miss Marple anscheinend nur in der Filmversion von Margaret Rutherford kennt und sich in der zweiten Hälfte des Buches regelmäßig darauf bezieht, ohne dabei deutlich zu machen, dass sie sich eben auf diese Filmfigur und nicht auf die Romanfigur stützt (was allerdings in all den Beispielen, die sie verwendet schrecklich deutlich wird). Und dass ich 2. selten so viel Namedropping erlebt habe, ohne dass die Namen der erwähnten Personen wirklich genannt wurden, wenn sie nicht gerade häufiger in dieser Biografie vorkamen oder eine wichtige (politische) Rolle im Weltgeschehen spielten. Oft heißt es nur „die Cousine von“, „der Schwager von“ oder „die Frau von“ (zum Beispiel als es um Dianas Bekanntschaft zu der „Frau von James-Bond-Erfinder Ian Fleming“ ging), aber eigene Namen haben diese Personen – wenn ich nach diesem Buch gehen kann – wohl nicht gehabt. 😉