Johan Theorin: Öland

Nachdem ich im Frühjahr „Nebelsturm“ von Johan Theorin gelesen hatte und begeistert war, habe ich mir vor einiger Zeit von Bibendum den Debütroman des Autors ausgeliehen. „Öland“ spielt auf der gleichnamigen Insel und gehört zu einem Quartett von Titeln, das der Autor rund um diesen Handlungsort geplant hat. Die Romane sind unabhängig voneinander lesbar, aber trotzdem würde ich empfehlen, die Reihenfolge einzuhalten, damit einem nicht die eine oder andere Wendung in der Handlung vorweggenommen wird.

Nach einem kurzem Prolog, in dem man verfolgen kann, wie ein kleiner Junge für einen verhängnisvollen Ausflug den großelterlichen Garten verlässt, wird die Handlung in „Öland“ aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt. Auf der einen Seite kann man miterleben, wie Julia Davidson nach über zwanzig Jahren immer noch nicht den Verlust ihres Sohnes Jens verkraftet hat. Nur unwillig reist sie von Götborg nach Öland, nachdem ihr Vater Gerlof behauptet, dass er neue Hinweise auf das Schicksal des Kindes bekommen hat. Doch erst einmal auf der Insel angekommen, muss sie sich dem stellen, was damals passiert ist – und so auch endlich versuchen, mit der Vergangenheit abzuschließen.

Gerlof hingegen quält nicht nur die Frage nach dem Verbleib seines Enkels, ihm geht es auch darum, zu erfahren, warum jemand nach all den Jahren auf ihn zugekommen ist, um ihm einen wichtigen Hinweis zu überreichen. Dem alten Mann geht es darum, die Wahrheit herauszufinden, Gerüchte und Vermutungen zu hinterfragen und endlich mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen. Obwohl ihm seine Tochter unterstellt, dass er sich mit seinen Ermittlungen in den Vordergrund spielen will, wird deutlich, dass ihm nun, da sein Körper aufgrund seiner Altersgebrechen nicht mehr recht funktionieren will, seine Gedanken keine Ruhe lassen. Während Julia anfangs schrecklich passiv ist, kommt mir Gerlof wie ein Terrier vor, der sich in etwas verbissen hat und einfach nicht mehr loslassen kann. Unterstützt wird er dabei von zwei alten Freunden, die ihm mit ihren Erinnerungen und ihrem Wissen um die einheimischen Bewohner der Insel zur Seite stehen.

Die dritte Perspektive führt den Leser hingegen in die Vergangenheit, wobei schon der Prolog deutlich macht, dass es eine enge Verbindung zwischen diesem Erzählstrang und dem Verschwinden des Kindes gibt. Im Jahr 1936 beginnt die Geschichte rund um Nils Kant, als sein kleiner Bruder beim Schwimmen ertrinkt, und in den folgenden Jahren kann der Leser ein gewalttätiges Ereignis nach dem anderen rund um den seltsamen jungen Mann verfolgen. Bei all den Vorfällen ist es kein Wunder, dass die Alteingesessenen auch Jahrzehnte danach noch Nils Kant als die Wurzel allen Übels ansehen und die Gerüchte um seine Taten nicht verstummen.

Johan Theorin nimmt sich viel Zeit, um diese Geschichte und eine besondere Öland-Atmosphäre aufzubauen. Ich habe beim Lesen regelrecht gespürt, dass diese Insel und die dort lebenden Menschen ihren ganz eigenen Rhythmus haben. Und dieser Rhythmus wird nicht nur beim Erzählen von Geistergeschichten und Sagen deutlich, sondern auch bei den „Ermittlungen“ von Julia und Gerlof. So entwickelt sich die Handlung sehr gemächlich, ohne dass ich mich dabei je gelangweilt hätte. Stattdessen habe ich mir meine eigenen Gedanken um die Geschehnisse gemacht, das Gefühl von herbstlicher Ruhe genossen, vor meinem inneren Auge gesehen, wie verlassen so ein Ort wirken kann, wenn er hauptsächlich aus Sommerhäusern besteht, und mir dabei eingebildet, den eisigen Wind zu spüren, der den nahenden Winter ankündigt.

Und da ich „Nebelsturm“ vor „Öland“ gelesen habe, konnte ich mir einen Vergleich zwischen den Büchern beim Lesen nicht ganz verkneifen. „Nebelsturm“ wirkt viel mehr wie eine Geistergeschichte und lässt den Leser in einem viel höheren Maße darüber im Unklaren, was wirklich ist und welche Eindrücke nur auf Einbildung oder Hörensagen basieren. Dafür ist die Handlung auch komplexer und – trotz der einen oder anderen Länge – spannender. Aber trotz dieses Vergleichs fand ich „Öland“ sehr unterhaltsam und spannend zu lesen.

Ich liebe Johan Theorins Fähigkeit, Atmosphäre zu erzeugen, bin hingerissen von der Insel (und einigen ihrer Bewohner) und bekomme beim Lesen Sehnsucht nach einer Auszeit in einer so ursprünglichen Umgebung (wobei ich natürlich die Sommerhäuser ignorieren müsste *g*). Obwohl ein spürbarer Qualitätssprung zwischen „Öland“ und „Nebelsturm“ vorhanden ist, habe ich den Debütroman des Autors wirklich gern gelesen. Und nun muss ich unbedingt die Augen nach „Blutstein“, dem dritten Öland-Roman, aufhalten.

4 Kommentare

  1. Ödland Atmosphäre und Blues! Ja, jetzt fehlen mir nur noch die Bücher. Auweia, ich sollte meine Brille aufsetzen. "Öland" ist allerdings ein Titel, unter dem man sich nur etwas vorstellen kann, wenn man deine Zeilen liest. Klingt aufregend! Danke für deine Empfehlungen!

    Liebe Grüße,
    Tanja

  2. Hihi, Ödland passt aber bei "Öland" auch. 😀 Ich habe mir heute morgen bei Wikipedia erst einmal die Alvar anzeigen lassen, eine karge Landschaft, die eine wichtige Rolle in diesem Roman spielt, und bin fasziniert davon, wie öd diese Gegend wirkt und wie sehr man auf die Details achten muss, um ihre Schönheit wahrzunehmen. 🙂

    Auf jeden Fall ist das ein perfektes Buch für den Herbst, wenn du denn genügend Geduld mitbringst für die gemächliche Art der Öländer. 😉 Und wenn der erste Schnee fällt, dann sollest du (vorausgesetzt, dass die "Öland" gefallen hat) zu "Nebelsturm" greifen und dich gruseln, während draußen der Winter herrscht. 😉

  3. *grins* Gerade ebend hab auch ich mir diese Ödnis im Internet angesehen. Da ich ja eh ständig mit meiner Kamera unterwegs bin, und die verrücktesten Dinge fotografiere, finde ich die Kulisse total schön. Aber stell dir vor, du wärst auf dieser Insel ganz alleine, und müsstest dort sogar eine Nacht im Freien verbringen. Wahrscheinlich würde ich mir in die Hosen machen. Ganz ehrlich! "Nebelsturm" werde ich mir demnächst definitiv kaufen. Obwohl….., an Winter und Schnee schippen mag ich momentan noch nicht denken. Ich hoffe noch auf den goldenen Oktober. 😉

  4. Ich finde die Alvar auch sehr reizvoll – keine Landschaft an die ich spontan denken würde, wenn ich etwas "schönes" nennen sollte, aber wenn man sich erst einmal darauf einlässt. 🙂

    Hast du "Öland" denn schon gelesen? Das ist nämlich der erste Titel und der perfekte Herbstroman. Dann kannst du dich ja ganz langsam auf den kommenden Winter einstimmen. 🙂 Und gegen einen goldenen Oktober hätte ich auch nichts … 🙂

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