„The Making of Home“ von Judith Flanders war einer meiner seltenen Spontankäufe in den letzten Monaten, weil das eBook sehr günstig angeboten wurde und ich den Titel und die Inhaltsbeschreibung mochte. Das Buch dreht sich um den Unterschied zwischen „Heim“ (bzw. Zuhause) und „Haus“ und wie sich dieser Unterschied im Laufe der Jahrhunderte (genauer gesagt zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert) erst entwickelt hat. Dabei vermittelt die Autorin schon im Prolog einige interessante Details, indem sie verschiedene Sprachen aufzählt, die unterschiedliche Wörter für diese beiden Begriffe haben, und natürlich auch einige Sprachen, in denen es eben nur einen Ausdruck gibt, der sowohl für das Zuhause als auch für das Haus steht. Nach diesem kurzen Ausflug zur sprachlichen Seite gibt es einen Schlenker zu dem, was unsere Vorstellung von einem Haus und einem Zuhause prägt.
Judith Flanders verweist nicht nur darauf, dass (westeuropäische und nordamerikanische) Kinder in der Regel ein schnuckeliges Einfamilienhaus zeichnen, wenn man sie bittet, ein Haus zu malen, obwohl nur wenige Kinder wirklich in einem solchen Gebäude leben, sondern auch darauf, wie sehr diese Vorstellung von einem Haus und von einem heimeligen Wohnort z. B. von der Kunst geprägt wurde. So gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Gemälde holländischer Maler aus dem 17. Jahrhundert, die dem heutigen Betrachter das Gefühl geben, sie würden das Leben der gehobenen Mittelschicht recht detailliert darstellen, nur in sehr geringem Maß die Realität abbildeten. Man kann zwar in diesen Bildern tatsächlich vorhandene Alltagsgegenstände und Möbelstücke entdecken, aber bei vielen anderen Dinge, wie der Fußboden- und der Raumgestaltung, haben die Maler ihre Gemälde recht frei mit unrealistischen Details versehen, damit sie dekorativer wirken.
Das Buch ist in sieben Kapitel („The Family Way“, „A Room of One’s Own“, „Home and the World“, „Home Furnishings“, „Building Myths“, „Hearth and Home“ und „The Home Network“) aufgeteilt, die sich mit den verschiedenen Aspekten den Wohnens beschäftigen. Dazu gibt es noch ein angehängtes „Kapitel“ rund um den Einfluss der Architektur auf das private Wohnen nach der Weltausstellung in Paris 1925. Grundsätzlich fand ich viele Aspekte, die in diesem Sachbuch geschildert wurden, sehr interessant, fühlte mich aber auch regelmäßig von der Flut an Informationen etwas erschlagen. Vor allem die ersten Kapitel fand ich spannend, in denen Judith Flanders unter anderem auf den Zusammenhang zwischen der Verbreitung des protestantischen Glaubens und die damit verbundene eher späte Verehelichung von Frauen eingeht, was dazu geführt hat, dass Frauen die Möglichkeit hatten, vor ihrer Heirat einem Beruf (auch außer Haus) nachzugehen und zu einem gewissen Wohlstand zu kommen. Das stärkte nicht nur die Rechte der Frauen, sondern sorgte auch dafür, dass ein frisch verheiratetes Paar genügend Geld hatte, um sich ein Haus zuzulegen und sich mit Dingen zu umgeben, die von ihrem gesellschaftlichen Status zeugten.
Aber auch auf das Wechselspiel zwischen der fortschreitenden Industrialisierung, der Ausweitung des internationalen Handels und der dadurch geringeren Wichtigkeit von Landbesitz zur Sicherung des Wohlstandes geht Judith Flanders ein. Faszinierend fand ich es auch, dass dieser steigende Wohlstand langfristig dann letztendlich dazu führte, dass in der Mittelschicht die Frauen wieder weniger Möglichkeiten und Rechte eingeräumt wurden. So entstand im Laufe der Zeit eine Gesellschaftsschicht, in der es verpönt war, wenn die Frau (außer Haus) arbeitete und in der der Mann als einziger Ernährer der Familie diente. Auch das Verständnis von Familie hat sich dadurch gewandelt, dass das Haus im Laufe der Zeit nicht mehr Wohn- und Arbeitsraum für einen Hausherrn, seine Verwandtschaft und die Angestellten war, sondern zu einer privaten Unterkunft für ein Paar und seine Kinder wurde.
So interessant und spannend ich all die Details rund ums Wohnen und die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen und häuslichen Veränderungen fand, so wünschte ich mir stellenweise, die Autorin hätte ihr Thema nicht so weit gefasst, dass sie immer wieder recht allgemeine Beispiele verwenden musste. Das erste Mal ist mir das besonders ins Auge gefallen, als es um die anfallende Arbeit in einem (ländlichen) Haushalt ging. Die Aufzählung der verschiedenen Tätigkeiten von der Versorgung der Nutztiere bis zum wöchentlichen Waschen der Wäsche und die dafür veranschlagte Zeit gab mir das Gefühl, als ob Judith Flanders davon ausging, dass jede einzelne Frau jede dieser Tätigkeiten zu tun hatte (es also keine Unterschiede in den verschiedenen Haushalten gegeben hätte) und jede Tätigkeit die komplette Aufmerksamkeit erfordert hätte, ohne in Betracht zu ziehen, dass das Unterrichten der Kinder genauso gut mit dem Strickzeug in der Hand erfolgen konnte oder man den Fußboden fegen konnte, während das Essen auf dem Feuer garte. Ich hoffe, dieser Eindruck entstand vor allem durch die konzentrierten Form der Wissensvermittlung (und eventuell durch die eher vage Ausdrucksweise der Autorin), und vermutlich ist es etwas arg kleinlich von mir, aber dieser und ähnliche Absätze irritierten mich ein bisschen – auch wenn die folgenden Passagen, in denen detaillierter auf die Veränderungen in der Haushaltsführung über die Jahrhunderte eingegangen wurden, diese Aussagen wieder relativierten.
Ein weiterer Punkt, der mich immer wieder geärgert hat, war die Vehemenz, mit der Judith Flanders gegen angeblich weit verbreitete Vorurteile und Irrtümer vorging und dabei – meinem Gefühl nach – auch übers Ziel hinausschoss. So ist mir durchaus bewusst gewesen, dass unsere Art zu wohnen – also mit mehreren Räumen und wenig „Mischnutzung“ in einem Raum – überaus modern ist, dass nicht jeder neue Einwanderer in Amerika sich gleich eine perfekte Hütte bauen konnte oder dass nicht jede Frau in der Vergangenheit ein Spinnrad besaß. Wenn ich auf der anderen Seite sehe, wie schnell eine geübte Spinnerin Wolle verarbeitet, dann bezweifle ich wiederum die von Judith Flanders getroffene Aussage, dass ein Hausfrau mit einem Spinnrad gerade mal genügend Garn hätte spinnen können, um für den Sockenvorrat des Haushalts zu sorgen.
Außerdem zieht die Autorin häufig Laura Ingalls Wilders Veröffentlichungen als Quelle für das Pionierleben in Nordamerika heran. Dabei widersprechen aber oft genug andere Aussagen von Judith Flanders dem, was ich in den Romanen von Laura Ingalls Wilder gelesen habe. So behauptet Judith Flanders, dass Fensterglas nicht sehr weit verbreitet war, aber mich irritiert diese Aussage, wenn ich daran denke, dass die kleine Laura mit Mamas metallenem Fingerhut Muster auf dem Raureif auf der Fensterscheibe hinterlassen hat. Und wenn ich mich richtig erinnere (dummerweise finde ich gerade meine Ausgabe von „Laura im großen Wald“ nicht), dann schlief Laura unter einer Decke, die aus alten Kleidern der Familie hergestellt wurde – obwohl laut Judith Flanders Patchworkdecken eine „moderne“ Entwicklung sind, die erst mit dem Import von billigen Stoffen aus dem indischen Raum entstand, denn früher hätte sich kaum ein Haushalt das nötige Material dafür leisten können. Die Autorin hat bestimmt recht, wenn sie meint, dass man früher keine neuen Stoffe dafür genommen hat und dass ärmere Familien nicht genügend Altkleider hatten, um daraus regelmäßig Decken nähen zu können, aber trotzdem haben mich solche Aussagen unzufrieden zurückgelassen.
Vermutlich hätte es schon gereicht, wenn sie bei der ersten Erwähnung von Laura Ingalls Wilder als Quelle erwähnt hätte, dass Lauras Familie wohlhabender war als der Großteil der Pionierfamilien. Aber da Judith Flanders dies unterlassen hat, frage ich mich nach dem Lesen von „The Making of Home“, was für Beispiele mir in dem Buch noch präsentiert wurden, die als „allgemeingültig“ dargestellt wurden, obwohl sie nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung galten. Diese Unsicherheit nach dem Lesen dieses Sachbuches ärgert mich besonders, da ich anfangs von all diesen Informationen und den Verknüpfungen zwischen den diversen politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Entwicklung und den davon beeinflussten „häuslichen“ Veränderungen der Menschen wirklich fasziniert und sehr angetan war.
Schade, eigentlich finde ich genau solche Untersuchungen super spannend, aber deine Kritik kann ich – ohne das Buch gelesen zu haben – nachvollziehen. Es ist auch schwierig, wenn Verallgemeinerungen in Sachbüchern auf Einzelschilderungen zurückgeführt werden… LG mila
Ich fand auch ganz viele Aspekte an diesem Buch spannend. Gerade die übergreifenden Erkenntnisse (sonst konzentriert man sich ja doch eher auf ein begrenztes Gebiet) waren faszinierend. Aber da ich mich im Laufe des Buches immer wieder fragte, ob eine Aussage so stehengelassen werden kann oder vielleicht doch hinterfragt werden müsste (auch in Bezug auf architektonische Dinge), war ich am Ende wirklich unzufrieden.
Ich habe mir eigentlich nie Gedanken darüber gemacht, wie sich im Laufe der Zeit die Begriffe „Haus" und „Zuhause" entwickelt haben. Witzig, über was man so alles schreiben kann – und dass es auch so spannend!
Stimmt, Kinder zeichnen wirklich immer ein Haus! 😀 Ich selber früher bestimmt auch, dabei habe ich nie in einem Haus gewohnt. Ulkig.
Ich finde es immer wieder fasznierend, auf was du alles achtest und wie du das in deiner Rezension unterbringst! Mir wären diese Aspekte bestimmt gar nicht aufgefallen. 😉
@BücherFähe: Über die Begriffe und die damit verbundene Bedeutung habe ich mir so auch noch nie Gedanken gemacht. Viele architektonische Veränderungen kannte ich aus dem Studium, aber so weit gefasst hatte ich mich vorher noch nicht damit beschäftigt.
Ich habe früher in einem Haus gewohnt, aber meine Kinderzeichnung sah auch immer anders aus als die Realität – und damit meine ich nicht die gezeichnete Variante, die eine Rutsche in einen Außenswimmingpool hatte. 😀
Dafür wären dir bestimmt andere Aspekte ins Auge gefallen. 🙂 Gerade diese unterschiedliche Wahrnehmung macht doch das Schreiben über Bücher so spannend.
Irgendwie schafft du es jedes Mal, mein Interesse auf ein Buch zu lenken – selbst wenn du am Schluss nicht ganz zufrieden warst. Vielleicht liegt es auch daran, dass deine Schreiberei so locker klingt und Informationen darin sind, die spannend sind, dass man unbedingt mehr erfahren will. Was aber daran scheitern wird, dass mein Englisch noch zu dürftig ist um ein Sachbuch zu verstehen. Ich arbeite jedoch daran und lese Kinderbücher mit dem Duden als Hilfe. Ist noch ein bisschen mühsam, aber es kommt. Und irgendwann bin ich dann soweit und sehe mir den "Pretender" auf englisch an 😉
Hm. sieht so aus, als müsste ich das Buch lesen. Das, was du über die Hausarbeit und das Spinnen schreibst, klingt allerdings nicht vielversprechend.
Ich muss wohl das nächste Mal, wenn ich Sockenwolle spinne, aufschreiben wie lange ich brauche.
Ich denke, man kann davon ausgehen, dass früher kaum jemand so viele Kleidungsstücke hatte wie wir, dass Kleidung sehr, sehr häufig weitervererbt wurde und auch solche Dinge wie Vorhänge und Decken nicht für jede Familie neu angefertigt wurden.
Es heißt, vor der industriellen Revolution brauchte jeder Weber sieben Spinner, wenn das was weiterhilft. Und dabei ging es ja nicht nur um Kleidung. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre wenn ich jeden Sack, jede Plane, jedes Seil und jede Tasche auch noch selbermachen müsste…
Auf jeden Fall schaue ich mir mal die Leseprobe an, vom Thema her klingt das sehr interessant, danke.
Ich kann nachvollziehen, dass dich die angesprochenen Kritikpunkte gestört haben. So etwas schmälert dann den guten Gesamteindruck doch oft ziemlich. Schade, denn sonst klingt das Buch durchaus interessant.
@nalieku: Oh, danke! 🙂 Es gab auch wirklich viele spannende Aspekte an dem Buch.
Kinder- und Jugendbücher sind toll, wenn man sein Englisch üben möchte. 🙂 Ich drücke die Daumen, dass es gut voran geht und du bald "Pretender" im Original schauen kannst! (Sydney finde ich übrigens sehr schwer verständlich, aber dafür gibt es ja Untertitel. *g*) Sprachlich fand ich "The Making of Home" okay und nicht so herausfordernd, muss aber auch zugeben, dass ich noch einige architektonische Begriffe auf Englisch aus dem Studium präsent habe. Da fällt es mir schwer einzuschätzen, wie speziell sie sind und wie schwierig das grundsätzlich für andere Leser wäre.
@Susanne: Grundsätzlich waren da viele spannende Sachen drin und viele Verknüpfungen, die mir nicht so spontan ins Auge gefallen wären. Was die Sache mit dem Spinnen angeht: Hätte sie eine Zahl genannt, dann hätte es mich auch nicht so irritiert. So aber frage ich mich, ob dieser "Haushalt" aus vier Personen oder vierzig besteht – letzteres würde die Gesamtversorgung durch ein Spinnrad schon herausfordernder machen. 😉
An dich und dein Spinnen musste ich beim Lesen auf jeden Fall denken. Und ja, es gab deutlich weniger Kleidung pro Person und die Kleidung wurde sehr viel länger getragen, wurde regelmäßig geflickt und vererbt …
@Neyasha: Man muss halt beim Lesen mit solchen Ungenauigkeiten leben können, dann findet man viele spannende Aspekte in dem Buch. Mich hat es halt auf Dauer gestört und je mehr es mich gestört hat, desto empfindlicher reagierte ich auf weitere Beispiele. 😉
Das Thema finde ich grundsätzlich spannend (wie ich auch die Geschichte der Essgerätschaften spannend fand). Dennoch werde ich vor dem Hintergrund Deiner Besprechung das Buch von Judith Flanders wohl nicht lesen. 😉
@Natira: Bee Wilson macht mir gerade auch mehr Spaß als Judith Flanders, auch wenn "The Making of Home" deutlich komplexere Informationen beinhaltet hat. 🙂
Manchmal kann weniger mehr sein 😉
[…] Judith Flanders: The Making of Home – The 500-year story of how our houses became homes 368 S. […]
[…] Judith Flanders: The Making of Home – The 500-year story of how our houses became homes 368 S. […]
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