„London 1818. Billy ist ein einsamer Straßenjunge und Taschendieb und schleicht auf seinen Raubzügen durch die düsteren Gassen der nebligen Straßen. Da stolpert er über eine leblos am Boden liegende Gestalt – ein vermeintlich leichtes Opfer für einen gewieften Taschendieb? Doch der monströse Riese entpuppt sich als eine Furcht einflößende Gestalt: Mister Creecher! Und der ist keineswegs wehrlos oder gar tot.
Aus der zufälligen Begegnung von Billy und Mister Creecher wird Stück für Stück eine ungewöhnliche Freundschaft, die sie auf eine abenteuerliche Reise in Richtung Norden führt – immer einem Ziel folgend: Viktor Frankenstein.“
Ich muss zugeben, dass ich nach dem Lesen des Romans sehr zwiegespalten zurückbleibe. Auf der einen Seite hat mir „Mister Creecher“ sehr gut gefallen. Keine der Figuren ist richtig sympathisch, aber man kann ihre Motivationen und Handlungen nachvollziehen. Billy hat durch sein Leben auf der Straße eine Skrupellosigkeit entwickelt, die immer wieder sein Handeln bestimmt. Für ihn geht es immer wieder ums Überleben, und so ist seine Beziehung zu Mister Creecher auch immer davon bestimmt, welchen Nutzen er daraus ziehen kann. Mal geht er auf die Aufträge dieses Wesens ein, weil er sich fürchtet, mal deshalb, weil er finanziellen Nutzen daraus zieht. Freundschaft, Wärme oder Uneigennützigkeit kennt der Junge lange Zeit nicht, erst im letzten Drittel gibt es Momente, in denen man als Leser den Eindruck hat, dass er Gefühle für andere Menschen entwickeln kann.
Mister Creecher hingegen wirkt – trotz seines Furcht einflößenden Äußeren – anfangs sehr viel menschlicher. Er ist gebildet, liest Bücher (unter anderem Jane Austen), sehnt sich nach Nähe und Freundschaft und scheut vor Gewalt zurück. Trotzdem schimmert immer wieder eine weitaus gefährlichere Seite seines Charakters durch. Seine Wutausbrüche sorgen ebenso wie seine distanzierte Haltung gegenüber den Menschen und seine Besessenheit, wenn es um seinen Schöpfer Frankenstein geht, dafür, dass es schwer fällt, Vertrauen zu ihm aufzubauen.
Gerade diese Ecken und unsympathischen Seiten bei den Figuren haben mir sehr gut gefallen und ließen sie angenehm realistisch wirken. So kann ich auch gut damit leben, dass es für Billy und Mister Creecher am Schluss kein glückliches Ende gibt. Allerdings gefällt mir die Art und Weise nicht, in der Chris Priestley seinen Roman abgeschlossen hat. Für Billy gibt es da einen unfassbar schrecklichen Moment, der etwas in ihm zerbrechen lässt und dafür sorgt, dass all das „Gute“, das er im Laufe der vergangenen Monate in sich entdeckt hat, vollständig verschwindet. Um diese Entwicklung zu betonen, lässt der Autor Billy ein Verbrechen begehen und zeigt danach deutlich auf, welche Schritte der Junge in den nächsten Tagen gehen wird.
Mir persönlich wäre es deutlich lieber gewesen, wenn die Geschichte mit dem unfassbar schrecklichen Moment (puh, ist das schwierig, ohne zu sehr zu spoilern!) geendet hätte und wenn der Autor jede weitere Entwicklung der Fantasie des Lesers überlassen hätte. Das hätte diese Geschichte für mich so viel eindringlicher werden lassen. So aber fühle ich mich am Ende unbefriedigt und vom Autor entmündigt. Auch wenn „Mister Creecher“ für Jugendliche geschrieben wurde, so bin ich doch der Meinung, dass man nicht jede Anspielung erklären muss, nicht jede Andeutung noch einmal aufgreifen und weiterführen muss, damit der Leser kapiert, welche Absicht der Autor damit verfolgt.
Chris Priestley verweist mit seinem Roman auf diverse Klassiker (und macht damit auch Lust, sich wieder mehr mit seinen Inspirationsquellen zu befassen). Die Verbindung zu „Frankenstein“ ist unübersehbar und wird nicht nur durch die Figur des Mister Creecher und seine Beziehung zu Viktor Frankenstein betont, sondern auch durch einen „Gastauftritt“ von Mary und Percy Shelley. Die Bezüge zu „Oliver Twist“ liegen ebenfalls auf der Hand, werden vom Autor aber erst in den letzten Absätzen – quasi als große Enthüllung – tatsächlich ausgesprochen. Billys Leben in London, seine Vorgeschichte als Kaminkehrerjunge, seine Aktivitäten als Taschendieb – all das scheint 1:1 aus einem Roman von Dickens zu stammen. Da Chris Priestley es die ganze Geschichte hindurch (krampfhaft) vermeidet, bestimmte Namen zu nennen, gibt es erst am Ende für den Leser (der „Oliver Twist“ kennt) die Gewissheit, welche Rolle Billy im Dickens’schen Universum einnimmt.
Auch hier hätte ich es viel spannender gefunden, wenn der Autor anders vorgegangen wäre. Mich hatte schon während des Lesens gestört, dass manche Figuren keinen Namen haben, sondern nur durch ihre Beziehung zu anderen Charakteren benannt werden. Als ich dann die „überraschende Wendung“ am Schluss las, war ich enttäuscht. Wie viel spannender wäre der Roman gewesen, wenn ich von Anfang an gewusst hätte, wer diese Personen sind und wenn ich mich beim Lesen hätte fragen können, wie Chris Priestley es letztendlich schaffen wird, seine Charaktere und ihre Geschichte mit den bekannten Elementen zu verflechten und daraus etwas Stimmiges zu erschaffen.
Noch bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich den Roman behalten werde. Abgesehen vom Ende hatte er mir wirklich gut gefallen – sehr atmosphärisch, sehr viele Szenen, die zeigen, dass das viktorianische Zeitalter bevorsteht, stimmige Charaktere, schöne Verweise auf Literaturklassiker -, aber momentan fürchte ich, dass ich die Geschichte nicht noch einmal lesen werde.
Hui, das ist aber eine lange kurze Rezension geworden. 😉 Schade, dass der Roman für dich nur in Teilen funktioniert hat. Eine "Neuerzählung" von "Frankenstein" aus veränderter Perspektive hätte ich schon interessant gefunden …
*g* Naja, "Kurz und knapp" kann alles sein – aber vor allem beinhaltet es keine Inhaltsangabe, die mir sonst eigentlich wichtig ist, so dass ich mich auf bestimmte Aspekte konzentrieren kann. 😉
Der Teil rund um "Frankenstein" ist auch gut gelungen, obwohl der Autor sich auf einen Ausschnitt konzentriert und das weitere Schicksal von Mister Creecher offen lässt. Aber diese beiden Kritikpunkte wiegen für mich doch zu schwer, um zufrieden zu sein.