Über „Weil wir längst woanders sind“ bin ich bei Natira gestolpert, die mir den Roman dann auch geliehen hat. Dieses Buch ist der Debütroman der Autorin Rasha Khayat, deren Geschichte von den Geschwistern Layla und Basil handelt, die als Grundschüler mit ihren Eltern von Jeddah (Saudi-Arabien) nach Deutschland umzogen. Geboren wurden die beiden in Jeddah, als Kinder einer deutschen Krankenschwester und eines saudi-arabischen Arztes, und so war für sie die Reise nach Deutschland anfangs nicht mehr als der übliche Sommerurlaub bei den deutschen Großeltern. Erst als sie nach den Ferien in Deutschland eingeschult wurden, beschlich die beiden der Verdacht, dass sie nun für längere Zeit in Deutschland leben würden. Wie lange die Eltern in Deutschland bleiben wollten, wird in dem Roman nicht gesagt, aber nachdem der Vater verstirbt, zieht die Mutter eine Rückkehr nach Jeddah nicht in Betracht.
Weder für Basil noch für Layla war die Umstellung auf das Leben in Deutschland damals einfach, aber immerhin konnten sie füreinander da sein. Trotzdem begreift Basil erst viele Jahre später, wie belastend das Ganze für die damals siebenjährige Layla war, als diese sich als erwachsene Frau ohne Abschied nach Jeddah aufmacht, um das Land ihres Vaters und ihrer Kindheit neu kennenzulernen. Wenige Monate später fliegt Basil nach Saudi-Arabien, um mit der dort lebenden Familie Laylas Hochzeit mit einem Mann zu feiern, den sie zwar nicht liebt, von dem sie sich aber ein Leben verspricht, in dem sie zufrieden sein kann. Für Basil ist diese Hochzeit Anlass, um über seine Eltern, seine Kindheit, seine Schwester und seine eigenen Erfahrungen in Deutschland und in Saudi-Arabien nachzudenken. So begleitet man als Leser Basil zwar nur wenige Tage, erfährt aber viel darüber, wie das Leben zwischen zwei so unterschiedlichen Ländern sein kann und wie schwierig es ist, wenn einen die Umgebung in Schubladen steckt, gegen die man nicht ankommt.
Ich habe mich mit Natira kurz über das Buch unterhalten, als diese bei uns zu Besuch war, und sie meinte, dass sie Laylas Entscheidung nicht nachvollziehen könne und dass dies den Roman für sie zu einem unbefriedigten Leseerlebnis gemacht habe. Ich hingegen kann – wie am Ende auch Basil – mit Laylas Hochzeit leben. Die junge Frau geht eine Ehe mit einem Mann ein, der sie ebenso wenig liebt wie sie ihn. Aber dafür hat sie das Gefühl, dass da jemand ist, der sie so akzeptiert, wie sie ist. Sie fühlt sich in Jeddah nicht in irgendeine Schublade gesteckt, hat nicht das Gefühl, sie müsse sich dafür verteidigen, dass ihr Vater aus einem arabischen Land stammte, oder irgendwelche Vorurteile aufklären. Ich glaube, dass es sehr erleichternd sein kann, wenn man zum ersten Mal in seinem erwachsenen Leben das Gefühl hat, man könne sich auf Augenhöhe mit jemandem unterhalten, der ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie man selbst.
Dabei verschweigt die Autorin nicht, dass es in Jeddah sehr unterschiedliche Lebensweisen gibt. Während der Teil der Familie, der Basil und Layla nahe steht und der auch die Hochzeit organisiert, recht entspannt mit vielen Themen (wie Religion, Verschleierung, Alkohol, Zusammenleben von Männern und Frauen innerhalb einer Familie) umgeht, gibt es natürlich auch Verwandte, die sehr viel konservativer leben. Ebenso gibt es eine Szene, in der Rasha Khayat zeigt, dass es immer häufiger Vorfälle mit „Religionswächtern“ gibt. Ich persönlich fände es auch schwierig, unter solchen Umständen in einem Land zu leben, aber für Layla ist Jeddah eine Zuflucht voller liebevoller Familienmitglieder und ihr zukünftiger Mann jemand, der weiß, wie es sich anfühlt, zwischen zwei Kulturen aufzuwachsen.
Rasha Khayat lässt in „Weil wir längst woanders sind“ vieles ungesagt, so richtig kommt es auch nicht zu einer Aussprache zwischen Layla und Basil. Und weil Basil nicht richtig mit seiner Schwester sprechen kann, muss er sich darauf beschränken, über all die Menschen in seiner Umgebung nachzudenken. Das führt zu so einigen – für ihn – neuen Erkenntnissen und Fragen, die dem Leser auch immer wieder vor Augen führen, dass es weder bei Layla noch bei sonst jemandem um ein Land oder eine Kultur, sondern um ein Individuum geht. Verpackt wird das Ganze in eine reduzierte Erzählweise, die einem viel Raum für eigene Gedanken bietet.