„Die Menschenleserin“ ist der erste Roman, der Kathryn Dance zur Hauptfigur hat. Die Ermittlerin wurde von Jeffery Deaver schon in „Der gehetzte Uhrmacher“ eingeführt und bildete dort einen angenehmen Gegenpol zu dem extrem rational angelegten Wissenschaftler Lincoln Rhyme. Schwerpunkt von Kathryn Dance ist die Kinesik, also das Lesen und Deuten von Körpersprache, und in diesem Bereich ist sie eine anerkannte Expertin. Deshalb bekommt sie auch den Auftrag den hochintelligenten Daniel Pell zu verhören. Dieser hatte vor acht Jahren auf einen Streich eine ganze Familie ausgelöscht – und nur die neunjährige Tochter überlebte diesen Gewaltakt.
Nun kommen neue Beweise ans Licht, die vermuten lassen, dass Daniel Pell auch in andere Mordfälle verwickelt sein könnte. Doch bevor Kathryn den Verbrecher genau studieren kann, gelingt es diesem die Sicherheitsbeamten zu überrumpeln und zu flüchten. Der Ablauf dieser Flucht zeigt, dass der Mörder einen Komplizen gehabt haben muss, der den Ausbruch im Detail vorbereitet hat. Während die Polizei ihr Glück mit Straßensperren versucht, sammelt Kathryn Dance jede Information über Daniel Pells Persönlichkeit, die sie finden kann, und spürt auch die Frauen auf, die früher mit dem charismatischen Verbrecher eine Art Familie gebildet haben.
Für mich ist ein Krimi, der sich darum dreht, dass ein Spezialist sich in die Denkweise eines bestimmten Täters hineinversetzen muss, einfach ein vertrautes Leseerlebnis. Ich weiß ungefähr, was mich bei einem solchen Buch erwartet – und auch wenn es kaum etwas neues zu entdecken gibt, lese ich solche Geschichte immer wieder gern. In „Die Menschenleserin“ konzentriert sich der Autor sehr auf die Arbeitsweise von Kathryn Dance, was zwar recht interessant ist, aber sich auch schnell anfühlt, als ob Jeffery Deaver seitenweise aus einem Lehrbuch zu dem Thema zitieren würde.
Hier habe ich das Gefühl, dass er sich noch sehr umstellen muss, damit er von seiner ersten Reihe rund um Lincoln Rhyme und den Beschreibungen seiner forensischen Arbeit wirklich stimmig auf Kathryn Dance umschwenkt. Während Lincoln sehr sachlich ist und seine Tätigkeit auch viel Raum für ausführliche Erklärungen zur wissenschaftlichen Seite eines Falles bietet, ist Kathryn deutlich emotionaler – und sie muss in ihrem Sachgebiet wesentlich variablere Faktoren berücksichtigen, um zu einem „richtigen“ Ergebnis zu kommen.
Doch trotz der vielen Erklärungen zum Thema Kinesik (die mir zum Teil auch etwas zu simpel daherkamen) entwickelt sich eine spannende Geschichte. Jeffery Deaver erzählt seine Handlung aus verschiedenen Perspektiven, die es dem Leser ermöglichen sich seine eigenen Gedanken zu den verschiedenen Taten und dem eigentlich Hergang zu machen. Auch hat mir Kathryn Dance recht gut gefallen. Die Ermittlerin ist Witwe, hat zwei Kinder und liebevolle Eltern und einen engen Freundeskreis, so dass ihr Umfeld recht harmonisch und „normal“ wirkt. Allerdings hat der Autor so einige privaten Entwicklungen für sie angedeutet, die mir noch nicht so ganz behagen. Aber noch bin ich bereit einfach abzuwarten, was im zweiten Band dieser Reihe davon wirklich umgesetzt wird – und wie der Autor diese Handlungsstränge dann weiterführt.
Achja, beim Lesen dieses Buches ist mir mal wieder aufgefallen, dass ich doch erstaunlich viel über amerikanische Serientäter, Sekten und große Mordfälle weiß. So gibt es hier sehr viele Anspielungen auf Charles Manson, wobei ich die mitgelieferten Erklärungen zu dem Thema eigentlich nicht benötigt hätte. Sollte mir das nun zu denken geben? Oder ist das nur die natürliche Folge davon, dass ich in den letzten zwanzig Jahren einfach verflixt viele Krimis gelesen habe?