Bei der „Klappentextfrage“ hatte ich euch ja gefragt, was ihr bei der Inhaltsangabe von „Das letzte Kapitel“ erwarten würdet, und insgesamt ging die Tendenz bei euren Antworten schon zu einem spannenden historischen Krimi/Thriller. Während Natira sogar so verwegen war und übernatürliche Elemente in die Diskussion warf, meinten Soleil und Ailis, dass zumindest etwas Grusel zu erwarten sei. Ich persönlich hatte übrigens einfach nur einen schlichten historischen Bostoner Kriminalroman – vielleicht mit einem Hauch „Jack the Ripper“ von der Stimmung her – erwartet, obwohl der Klappentext schrecklich reißerisch formuliert ist.
Umso erstaunter war ich, dass ich mich beim ersten Kapitel in Indien wiederfand, wo zwei junge britische Polizisten (Turner und Mason) sich auf „Räuberjagd“ befanden. Erst das zweite Kapitel brachte mich nach Boston, wo ich erleben musste, wie ein junger Mann mit einem Bündel Seiten in den Händen verwirrt durch die Straßen wankt, während er von einer unheimlichen Gestalt mit einem auffälligen Gehstock verfolgt wurde. Und nein, es handelte sich bei dem jungen Mann nicht um Sylvanus Bendall, sondern um den Büroboten Daniel, der im Auftrag des Verlegers Osgood unterwegs war. Daniel stirbt und die Manuskriptseiten, die er am Hafen abgeholt hatte, verschwinden. Doch nach dieser fesselnden Szene beginnt für den Leser kein spannender Kriminalroman, stattdessen durfte ich fast die Hälfte des Buches hinter mich bringen, bis wieder ein wenig Spannung bei mir aufkam.
Denn trotz der Krimielemente ist dieses Buch vor allem eine Hommage an den Schriftsteller Charles Dickens, die Matthew Pearl mit vielen Details über sein Leben und die Zeit, in der er lebte, ausschmückte. So wird die Geschichte in drei Handlungssträngen erzählt. Einmal erlebt man aus der Perspektive des Verlegers Osgood, wie die Verlagswelt im Jahr 1870 in Amerika aussah, welche Rechtsprobleme es bei Büchern ausländischer Autoren gab und wie wichtig es für das Verlagshaus Fields, Osgood & Co. war, die letzten Seiten, die Dickens geschrieben hatte, in die Hände zu bekommen. Dieser Teil ist unterhaltsam und für jeden Buchliebhaber interessant – und wird von Matthew Pearl auch gleich als Aufruf an die Verlagswelt genutzt, dass Qualität und eine anständige Behandlung der Autoren wichtiger sind als das schnelle Geld.
Der zweite Erzählstrang dreht sich um Charles Dickens’ letzte Reise nach Amerika, um seine Erlebnisse dort – sehr faszinierend, was für ein Kult damals um den Autor betrieben wurde –, seine Person und sein Umfeld. Der dritte Teil spielt in Indien, und auch wenn man das anfangs nicht vermutet, so lernt man hier Charles Dickens’ Sohn Frank kennen. Während die ersten beiden Handlungsstränge mir ein paar neue Erkenntnisse über die Zeit, über Charles Dickens und über das Verlegerhandwerk im Jahr 1870 gebracht haben, hatte ich bei den Indien-Passagen immer ein großes Fragezeichen im Gesicht, weil ich den Teil lange nicht mit der restlichen Geschichte in Verbindung bringen konnte. Und ganz ehrlich, für die dünne Verknüpfung, die sich dann am Ende ergibt, hätte man diesen Part nicht in das Buch einbringen müssen.
Abgelenkt durch das Indienkapitel am Anfang und weil ich einen Krimi erwartete, brauchte ich ziemlich lange, bis ich in das Buch reingefunden hatte. Erst als ich das Ganze als historischen Roman rund um Dickens akzeptierte und nicht länger einen spannenden Krimi, der mit realen historischen Elementen spielt, erwartete, konnte ich mich mehr auf die Geschichte einlassen. Matthew Pearl hat mir beim Lesen das Gefühl gegeben, dass er sehr sorgfältig recherchiert hat und dass seine Darstellungen von Boston und England und den damaligen Lebensumstände sehr realistisch sind. Das hat mir – ebenso wie die Figur des Verlegers Osgood – sehr gut gefallen, war aber nicht besonders mitreißend geschrieben.
Auch die ständigen Zeitsprünge zu Dickens‘ Lesereise durch Amerika oder die Abschweifungen auf die Ereignisse in Indien haben bei mir nicht die Neugierde angefacht, sondern mir eher das Gefühl verliehen, dass die Handlung einfach schlecht konzipiert ist. Trotz des Rätsels um Charles Dickens’ letzten Roman fehlten mir einfach die kleinen, raffinierten Elemente, mit denen ein guter Autor die Spannung beim Leser hält und dafür sorgt, dass man das Buch einfach nicht mehr aus der Hand legen kann. Erst ganz am Schluss gibt es einen etwas rasanteren Showdown, doch so ganz konnte mich der nicht für die ausschweifige Erzählweise entschädigen.
Als Hommage an Dickens und an seinen unvollendeten Roman „Das Geheimnis des Edwin Drood“, ebenso wie an die integren amerikanischen Verleger, die ein Buch als Gesamtkunstwerk verstehen und nicht als Ramschware, ist „Das letzte Kapitel“ eine faszinierende – wenn auch etwas langatmige – Lektüre, doch dann hätte man auf so einige Passagen (zum Beispiel die Handlung in Indien) verzichten können. Als Kriminalroman hingegen würde ich dieses Buch eher nicht bezeichnen …