Caroline Vermalle: Als das Leben überraschend zu Besuch kam

Nachdem mir „Denn das Glück ist eine Reise“ von Caroline Vermalle so gut gefallen hatte, war ich sehr neugierig auf ihren neuen Roman „Als das Leben überraschend zu Besuch kam“. Wieder hat die Autorin recht alte Protagonisten für ihre Geschichte gewählt und gemeinsam mit ihren Figuren reist man durch die Bretagne und erlebt viele kleine bezaubernde Augenblicke. Im Zentrum der Geschichte steht die dreiundsiebzigejährige Jacqueline, die von einem Tag auf den anderen ihren Mann Marcel verlässt. Während er absolut keine Ahnung hat, wo seine Frau sein könnte, reist sie anfangs ziellos durch die Gegend. Doch dann erinnert sie sich an ihre Kusine Nane, die sie seit über fünfzig Jahren nicht mehr gesehen hat, und beschließt die Ile d’Yeu, auf der Nane lebt, als Startpunkt für einen Neuanfang zu wählen.

Dabei wird die Geschichte aus der Sicht eines Schmetterlings erzählt, der bei Jaquelines Erscheinen vor Nanes Tür spürt, dass hier etwas Besonderes vor sich geht. Und was dieser Schmetterling nicht selber beobachten kann, wird ihm von den verschiedenen Winden oder andere Insekten zugetragen, so dass sich die Handlung aus vielen kleinen Szenen zusammensetzt. Nur hier und da wechselt Caroline Vermalle die Perspektive, wenn es darum geht dem Leser die unausgesprochenen Gedanken ihrer Figuren zu vermitteln.

Mir sind die drei Hauptfiguren wirklich ans Herz gewachsen, obwohl das aufgrund der Schmetterlings-Perspektive und Jacquelines sprödem Wesen nicht so einfach war. Die alte Dame war eindeutig nicht glücklich in ihrer Ehe, wobei man beim Lesen nicht das Gefühl hat, dass ihr Mann Marcel das Problem war. Stattdessen scheint Jacquelines – schon vor 33 Jahren verstorbene – Mutter einen unguten Einfluss auf das Leben ihrer Tochter genommen und bis zum heutigen Tag vergällt zu haben. Sie war auch der Grund, warum der Kontakt zwischen Jacqueline und Nane abbrach, obwohl sich die Kusinen in den vergangenen Jahrzehnten sehr vermisst haben.

Nane ist ein deutlich lebenslustiger Charakter als Jacqueline. Sie hat früh einen Künstler geheiratet und sich selber als Bildhauerin einen Namen gemacht. Mit inzwischen achtzig Jahren genießt sie ihren Mittagschlaf im Garten, ihr liebevoll zubereitetes Essen und die vielen Besuche von Freunden und Familienmitgliedern. Obwohl auch ihr Leben nicht perfekt ist, scheint sie doch ihren Weg gegangen und letztendlich zufrieden zu sein. Zuletzt ist da noch Marcel, der nach dem Weggang von Jacqueline feststellen muss, dass es sehr vieles gibt, was er über seine Frau nicht wusste. Und weil man nicht über fünfzig Jahre Ehe einfach wegwerfen kann, will er zwei Fliegen mit einer Klappe erlegen. Auf der einen Seite will er sich einen Jugendtraum erfüllen, in dem er die Loire von der Quelle bis zur Mündung hinunter schwimmt und auf der anderen Seite will er so die Ile d’Yeu erreichen und dort – dank seiner großen Leistung – die Bewunderung (und die Liebe) seine Frau wiedererlangen.

Jacqueline stößt nicht nur bei Nane und Marcel viele Gedanken an, es werden auch einige weitere Personen durch ihre Handlungen beeinflusst und dazu veranlasst über ihr Leben und ihre Wünsche nachzudenken. Und je verzweifelter Jacqueline nach dem Punkt sucht, an dem sie sich verloren hat, und Ausschau nach einem Weg für ihre Zukunft hält, desto mehr Bewegung bringt sie in das Leben der Personen, die ihr nahe sind. Für den Leser gibt es so auch genügend Anlässe, um darüber nachzudenken wie wichtig die eigenen Hoffnungen und Wünsche sind und dass es nie zu spät ist, seine Prioritäten neu zu überdenken und sich an die Verwirklichung eines Traumes zu wagen.

Alles in allem hat mir die Geschichte wirklich gefallen, aber es gibt zwei Punkte, die dafür gesorgt haben, dass mich dieser Roman lange nicht so sehr bewegt hat wie „Denn das Glück ist eine Reise“. Erst einmal sind die Passagen, die aus der Sicht des Schmetterlings geschrieben wurden, sehr poetisch erzählt. Es sind bezaubernde kleine Szenen, die mich teilweise an die „windigen“ Passagen aus „Chocolate“ erinnert haben (während Nane Judi Dench Darstellung der Armande Voizin in der Verfilmung entsprach), aber diese Schmetterlingsszenen haben dafür gesorgt, dass ich die gesamte Handlung mit einem gewissen Abstand verfolgt habe. Die Geschichte wäre – in meinen Augen – so viel berührender und magischer gewesen, wenn sich die Autorin auf die einfache und reduzierte Erzählweise beschränkt hätte, die ihr Debüt ausgezeichnet hat.

Und dann gibt es am Ende des Romans einen Brief, den Jacqueline einer Freundin schreibt, und in dem sie erklärt, welche Teile der Handlung von ihr ausgeschmückt worden wären und welche nicht. Für mich wird damit eine wunderschöne und bewegende Geschichte radikal entzaubert. Ich möchte in so einem Buch keine Auflösung auf den letzten Seiten, die das Ganze „realistischer“ wirken lässt. Ich möchte den Roman zuklappen können und das Gefühl haben, dass da eine Autorin eine wunderschöne Geschichte voller leiser und bezaubernder Momente geschaffen hat, die in mir viele Gedanken und Gefühle ausgelöst hat. Und ich will am Ende eines solchen Buches das Gefühl haben, dass alles möglich ist und alles gut ausgeht, wenn man sich nur Mühe gibt …

7 Kommentare

  1. Hm, die Schmetterlingssichtweise kann ich mir noch als reizvoll vorstellen, aber was Du zum Brief andeutest, lässt meine Neugierde gerade gehörig abflauen.

  2. Stimmt zwar, aber … *grummel*… man will ja das Buch auch eigentlich ganz lesen. Vielleicht läuft es mir ja mal in einer Bücherei über den Weg und dann sehe ich weiter und entscheide mich operativ-taktisch spontan

  3. prinzburgi

    Eine super Erzählung. Ich habe gedacht, diese Art der Betrachtung dass die Natur über Menschen erzählt, hätte sich seit den alten Griechen verflüchtigt. Aber Nein! Ganz vorzüglich.
    Man fragt sich zwar wieso ein junger Mensch so eine Geschichte über alte Menschen erzählt, doch mich hat die Gschichte an sich verzaubert.
    Den Hinweis auf dieses Buch erhielt ich übers Radio und habe es mir dann doch gekauft. Ich las es hintereinanderweg; ich war von der Geschichte und der Erzählweise fasziniert.
    Am Ende muss ich Winterkatze recht geben. Ein erdachtes, wunderbar erzähltes Buch wird durch den Realismus des Briefes am Ende ad absurdum geführt. Das hat die Schönheit für mich total zerstört.Und immer wenn ich es in meinem Regal erblicke, ereilt mich eine Wut ohne Grenzen. Ich fühle mich echt vorgeführt.
    Ich werde mit Sicherheit kein Buch von Caroline Vermalle mehr lesen.

  4. @prinzburgi: Ich kann versichern, dass der Debütroman der Autorin ("Denn das Glück ist eine Reise") keine solche desillusionierende Wendung beinhaltet. Auf der anderen Seite ist die Sprache auch weniger poetisch gehalten als in "Als das Leben überraschend zu Besuch kam". Trotzdem würde ich jedem diese wunderbare Geschichte über zwei alte Herren, die die Punkte der Tour de France abfahren und dabei das Leben wieder neu entdecken, ans Herz legen wollen. Denn gerade die Einfachheit der Sprache und der Handlung machen diesen Roman so berührend.

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