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Christian Carayon: Dunkler See der Angst

Ich weiß nicht mehr, wo ich über „Dunkler See der Angst“ von Christian Carayon gestolpert bin – vermutlich über Twitter, denn in meinem Feedreader finde ich den Titel bei keinem der abonnierten Blogs. Obwohl ich mit französischen Autoren nur selten warm werde und auch skeptisch bin, wenn es in einer Geschichte um die Tötung mehrerer Kinder geht, die vor Jahren passierte und nie richtig aufgeklärt wurde, wurde ich auf diesen Titel neugierig. Dank der schnellen Verfügbarkeit über die Onleihe konnte ich es mir auch nicht noch einmal anders überlegen und habe so in den Tagen rund um Weihnachten einige Stunden mit diesem Roman verbracht.

„Mein Leben ist von Stillstand geprägt. Ich bewege mich nur vorwärts, wenn mir nichts anderes übrig bleibt. Ansonsten stehe ich nach Möglichkeit auf der Bremse, notfalls laviere ich. Ich sehe auf meinem Weg so viele Hürden, Fallstricke und Gefahren. Sich immerzu verwunderbar zu fühlen, kostet Kraft. Man trägt schwer am Gewicht der Feigheit.“

(1. Absatz des 3. Kapitels von „Dunkler See der Angst“)

Zu Beginn der Geschichte erzählt der Protagonist Marc-Édouard, dass der Auslöser für seine Recherchen rund um die Morde in Basse-Misère sein Psychiater war. Dieser hatte das schon dreißig Jahre zurückliegende Ereignis als Wurzel all der Ängste des Geschichtsprofessors ausgemacht und gemeint, dass nur eine Auseinandersetzung mit dem schrecklichen Vorfall seinem Patienten helfen könne. Obwohl Marc-Édouard die Therapie daraufhin abbricht, lässt ihn der Gedanke nicht los, dass er als Historiker sich mit den Morden in Basse-Misère und den Auswirkungen, die diese auf das gesamte Tal hatten, beschäftigen könnte. So bezieht er das Haus, in dem früher seine Großeltern gelebt hatten, und recherchiert detailliert die Ereignisse rund um das Wochenende, an dem das Sommerfest des Club Nautique stattfand und an dem am Sonntagmorgen die drei Leichen sowie ein weiteres schwer verletztes Kind auf einer kleinen Insel im See gefunden wurden.

Marc-Édouard erinnert sich selber an nur wenige Details aus dieser Zeit. Er war noch relativ jung (Fünftklässler), als die Kinder ermordet wurden, und kannte die Opfer eigentlich nicht. Trotzdem prägte diese schreckliche Tat von nun an sein Leben, sei es, weil seine Eltern ihn übermäßig behüteten vor lauter Angst, dass der unbekannte Mörder auch ihr Kind in die Finger bekommen könnte, oder weil die vielfältigen Gerüchte und Verdächtigungen solche Blüten trieben, dass sich der junge Marc-Édouard in der Gesellschaft seiner Nachbarn nicht mehr sicher fühlte. So ist es für ihn auch als erwachsener Mann belastend, sich mit den Ereignissen zu beschäftigen, die in dieser einen Nacht stattfanden, während er auf der anderen Seite mit den Augen eines Historikers im Laufe seiner Recherchen Unstimmigkeiten in den Aussagen der Beteiligten sowie neue Hinweise findet.

Ich muss gestehen, dass ich die Geschichte an sich recht spannend fand. Die Handlung wird sehr gemächlich erzählt und lange Zeit passiert nichts anderes, als dass Marc-Édouard immer wieder um dieselben Tatsachen und Personen kreist, dabei immer wieder die bekannten Fakten wiederholt und nur wenig neue Informationen entdeckt. Aber da ich es interessant fand, ein Verbrechen mal unter dem Aspekt der Folgen für diejenigen, die eigentlich nicht direkt von der Tat betroffen sind, zu betrachten, fand ich diese gemächliche und repetitive Erzählweise angemessen. Auch mit der Ausdrucksweise des Autors hatte ich keine Probleme, obwohl ich ja sonst französische Romane aufgrund der Blumigkeit der Sprache nicht so gern lese. Dafür war die Sicht, die der Protagonist auf die Welt an sich hat, für mich manchmal etwas schwierig, da mir Marc-Édouard mit seiner Ich-Bezogenheit, seinem ausweichenden Wesen und seiner Besessenheit von den Opfern nicht sehr sympathisch war. Aber da konnte ich noch nachvollziehen, warum Christian Carayon diese Figur so angelegt hat.

Ein wirkliches Problem hatte ich hingegen im Laufe der Geschichte mit all den Bewohnern von Basse-Misère und ihren kleinen dreckigen Geheimnissen, die von der Polizei und später von Marc-Édouard aufgedeckt werden. Denn wenn ich nach dieser Geschichte gehe, dann ist Sex die einzige Triebfeder für jegliche Art von Fehlverhalten. Der Autor hat sich viel Zeit genommen, um lang und breit zu beschreiben, wer sich von wem angezogen fühlte, wer mit wem ein Verhältnis hatte, wie „erwachsen“ der Körper des dreizehnjährige Teenagermädchen, das zu den Opfern gehörte, schon war und welche Wirkung dieser Körper auf all die Männer im Club Nautique hatte. Je mehr Details man als Leser über die verschiedenen Figuren erfuhr, desto schlimmer wurde es, denn entweder war eine Person verdächtig, weil sie bekannt dafür war, dass sie von Bett zu Bett hüpfte (und das vielleicht sogar mit Bettgefährten, die nicht dem anderen Geschlecht angehörten), oder es stellte sich heraus, dass jemand doch ganz überraschend ein Alibi hatte, weil derjenige zum Zeitpunkt der Tat gerade mit jemandem Geschlechtsverkehr hatte, mit dem er nicht verheiratet war.

Am meisten hat mich in der Beziehung das Ende gestört, denn obwohl Marc-Édouard herausfindet, wer die Morde auf der kleinen Insel im See begangen hat, und obwohl er genaue Informationen über Tatablauf und Motive bekommen könnte, bleibt er bei der Version der Geschichte, die er sich selbst anhand der Indizien „erdacht“ hat. Seine erdachte Variante bietet selbstverständlich eine „Erklärung“ für die Verstümmelungen eines der männlichen Opfer sowie für die Vergewaltigung des weiblichen Opfers, aber er kann sich nicht sicher sein, dass sie tatsächlich richtig ist. Hier hätte ich erwartet, dass er – gerade angesichts der Tatsache, dass er Historiker ist und dass er so lange geradezu besessen von der Wahrheit hinter den Morden von Basse-Misère war – am Ende genau wissen möchte, was in dieser einen Nacht passiert ist, doch er nimmt die Gelegenheit, seine Theorie endgültig bestätigt zu bekommen, nicht wahr. Es hätte mir ein einziger Satz gereicht, in dem Marc-Édouard anmerkt, dass durch die erhaltenen Informationen seine Version der Geschichte zum Großteil bestätigt wurde. Mir ist auch bewusst, dass der „Krimianteil“ in der Geschichte nur eine Krücke ist, um die Entwicklung eines schwachen und unglücklichen Protagonisten zu einem mutigeren und zufriedeneren Menschen anzustoßen. Aber das ändert nichts daran, dass ich mich darüber ärgere, dass ein eigentlich vielversprechendes Kriminalroman nach dem Lesen so viel Frustration bei mir hinterlässt.

Frank Bresching: Der Teufel von Grimaud

Im Rahmen meiner SuB-trahierung habe ich auch „Der Teufel von Grimaud“ von Frank Bresching aus dem Regal gezogen. Und nach dem Lesen lässt mich das Buch etwas zwiespältig zurück. Auf der einen Seite ist es ein spannender Roman, auf der anderen Seite herrscht in der Geschichte so eine schrecklich bedrückende Atmosphäre. Alles so düster und hoffnungslos und nur ein wirklich sympathischer Charakter – dem natürlich auch noch etwas Schlimmes zustößt.

Die Geschichte beginnt mit einem Prolog, der von zwei Mädchen (Oceane und Camille) erzählt, die einen Tag am Strand verbracht haben, sich dann aber auf dem Rückweg trennen – was dazu führt, dass eines der Mädchen missbraucht und ermordet wird. Das Dorf Grimaud wird durch diese grausame Tat aufgeschreckt: Einer von ihnen ist höchstwahrscheinlich der Täter, obwohl doch alle glauben, dass sie ihre Nachbarn so gut kennen. Die Ermittlungen werden von Kommissar Leo Balleroy übernommen, der erst einmal ein Gefühl für die verschiedenen Einwohner von Grimaud und die Verbindungen der verschiedenen Personen zueinander bekommen muss.

Erzählt wird die Handlung auf verschiedenen Perspektiven: So verfolgt man die Geschehnisse aus der Sicht des Polizisten, aus der von Camille, von Clement und natürlich dem Mörder. Während der Polizist systematisch alle Spuren verfolgt, herauszufinden versucht wer wann an welchem Ort war und ob es schon früher zu verdächtigen Vorfällen im Ort gekommen ist, schwankt Camille zwischen Trauer und Verzweiflung. Sie ist gerade erst nach Grimaud gezogen, fühlt sich einsam und verlassen (vor allem, da ihre Mutter vor allem mit ihrem Verlobten beschäftigt ist) und die ermordete Oceane war ihre einzige Freundin. Ein wenig Trost findet das Mädchen bei dem alten Clement der vor Jahren seine Frau verloren hat, als diese an Krebs starb, und dessen Sohn sich seit Jahrzehnten nicht mehr bei seinen Eltern hat blicken lassen. Der einsame Mann und sein Hund bieten Camille einen Zufluchtsort und ein offenes Ohr für ihre Gedanken und ihren Kummer.

Wie gesagt, wirklich sympathisch fand ich eigentlich nur eine Figur, trotzdem fand ich es sehr reizvoll die verschiedenen Perspektiven zu lesen, mir ein Bild von dem Leben in Grimaud zu machen und die Machtverhältnisse in diesem Ort kennenzulernen. Auch die Passagen, in denen die Gedanken des Mörders niedergeschrieben wurden, waren ausnahmsweise nicht uninteressant. Ihm ist schon seit langem bewusst, dass er eine unnatürliche Neigung zu jungen Mädchen hat und hat (fast) immer erfolgreich dagegen angekämpft, doch mit dem Zusammentreffen mit Oceane und ihrer Ermordung hat er eine Grenze überschritten, die ihm selber Angst macht. Doch das hat mir in gewisser Weise gefallen – vor allem war es eine angenehme Abwechslung zu den Mördern mit Machtfantasien und „meine Opfer sind selber Schuld“-Gedanken, die sonst gern von Krimiautoren kreiert werden.

Allerdings muss ich zugeben, dass mir eine Art „Happy End“ fehlt. Natürlich hüpft keiner nach Auflösung eines solchen Mordfalles am Ende heiter und unbeschwert über die Wiese. Aber ich möchte trotzdem das Gefühl haben, dass sich am Schluss etwas bewegt hat, dass zumindest irgendjemand eine Zukunft vor sich hat, die nicht durch und durch belastet ist. Stattdessen geben mir die letzten Seiten von „Der Teufel von Grimaud“ das Gefühl, dass die wenigen guten und hilfsbereiten Menschen verdammt sind, weil sie mit skrupellosen und bösen Personen eine Welt teilen müssen.

Caroline Vermalle: Denn das Glück ist eine Reise (Hörbuch)

Inzwischen ist es drei Jahre her, dass ich den Roman „Denn das Glück ist eine Reise“ von Caroline Vermalle gelesen habe. Und da mir die Geschichte so gut gefallen hatte und ich gern ein Wiedersehen mit Georges und Charles feiern wollte, habe ich dankbar zugegriffen, als mir Natira das Hörbuch als Leihgabe anbot. Ich muss gestehen, dass ich mir anfangs nicht vorstellen konnte, dass die Passagen, in denen Georges SMS schreibt, vorgelesen funktionieren könnten, hatte mich da aber zum Glück getäuscht. So saß ich vorgestern da und mir kullerten dicke Tränen übers Gesicht, während ich beim Tapetenkratzen die letzte Etappe von Georges und Charles ganz persönlicher Tour de France verfolgte. Ganz ehrlich, wenn man weiß was passieren wird, dann ist diese Geschichte fast noch rührender als beim ersten Lesen …

Da die Hörbuch-Version von „Denn das Glück ist eine Reise“ ungekürzt ist, durfte ich wieder jede einzelne Etappe, die Georges und Charles auf ihrer Reise zurücklegen, genießen. Gelesen wurde das Hörbuch von Tobias Dutschke, der seine Sache ganz wunderbar gemacht hat, auch wenn ich mich anfangs etwas an seine Stimme gewöhnen musste. Das aber liegt daran, dass man die ersten Passagen aus der Sicht von Georges Enkelin Adèle erlebt und zu einer 23jährigen Frau passt die charismatische Männerstimme nicht ganz so gut wie zu dem 83jährigen Georges und seinem deutlich jüngerem (76! *g*) Nachbarn Charles.

Die beiden Herren erfüllen sich einen Jugendtraum und fahren die Etappen der Tour de France mit dem Auto nach. Zwei Monate nehmen sie sich Zeit, um all die Orte anzusehen, die sie nur aus dem Fernsehen kennen. Charles und Georges treiben sehr unterschiedliche Motive an und während man Charles Gründe für die Reise erst spät in der Geschichte herausfindet, so steht von Anfang an fest, dass Georges dieses Vorhaben als letztes Abenteuer seines Lebens geplant hat. Er ist schon seit vielen Jahren gesundheitlich angeschlagen, hat sich entmutigen lassen und seine Lebensfreude verloren. Für ihn ist diese Tour de France eine Möglichkeit noch einmal etwas zu erleben, statt eines Tages tot in seinem Sessel im Wohnzimmer gefunden zu werden.

Dass die Tour anstrengend sein würde, hatte Georges erwartet, doch dass ihm all die neuen Menschen, die er kennenlernt und die wunderschöne Natur der Bretagne neuen Lebensmut geben würden, hatte er nicht erwartet. Dazu kommt noch, dass ihm seine Enkelin Adèle auf die Schliche kommt und darauf besteht, dass er ihr jeden Tag eine SMS mit seinem Aufenthaltsort schickt. Aus diesen kleinen Nachrichten entsteht eine ganz neue Beziehung zwischen den beiden, nachdem sie in den letzten zehn Jahren kaum Kontakt hatten. Obwohl ich die Geschichte ja schon kannte, habe ich es genossen, wenn Georges und Charles sich einen gemütlichen Abend in einem Restaurant gegönnt habe oder wenn sie wieder einen schönen Strand, ein Hafenstädtchen oder ein Hotel mit einem gemütlichen Bett gefunden haben.

Doch vor allem die Beziehung zwischen Georges und Adèle, die Freundschaft zwischen Georges und Charles und all die Dinge, die Georges über sich selber herausfindet, machen dieses Hörbuch so hörenswert. Umso mehr, da Tobias Dutschke all diesen kleinen und größeren Momenten ganz wunderbar zum Ausdruck bringt. Neugierig wie ich bin, habe ich auf einer Seite, auf der man ihn buchen kann, mal sein Profil angeschaut, dort wird er für ein „Sprachalter von 30 bis 45 Jahren“ empfohlen – ich würde diese Empfehlung locker um 40 Jahre raufsetzen. Seine „Altherrenstimme“ ist wunderbar warm, schwankt zwischen Zerbrechlichkeit und Kraft und überzeugt sowohl bei den ruhigeren und bedächtigeren Passagen, als auch bei den emotionalen, spontanen und wütenden Momenten. Für mich werden Georges und Charles von nun an immer so klingen wie in diesem Hörbuch – und das macht mich sehr glücklich.

Caroline Vermalle: Als das Leben überraschend zu Besuch kam

Nachdem mir „Denn das Glück ist eine Reise“ von Caroline Vermalle so gut gefallen hatte, war ich sehr neugierig auf ihren neuen Roman „Als das Leben überraschend zu Besuch kam“. Wieder hat die Autorin recht alte Protagonisten für ihre Geschichte gewählt und gemeinsam mit ihren Figuren reist man durch die Bretagne und erlebt viele kleine bezaubernde Augenblicke. Im Zentrum der Geschichte steht die dreiundsiebzigejährige Jacqueline, die von einem Tag auf den anderen ihren Mann Marcel verlässt. Während er absolut keine Ahnung hat, wo seine Frau sein könnte, reist sie anfangs ziellos durch die Gegend. Doch dann erinnert sie sich an ihre Kusine Nane, die sie seit über fünfzig Jahren nicht mehr gesehen hat, und beschließt die Ile d’Yeu, auf der Nane lebt, als Startpunkt für einen Neuanfang zu wählen.

Dabei wird die Geschichte aus der Sicht eines Schmetterlings erzählt, der bei Jaquelines Erscheinen vor Nanes Tür spürt, dass hier etwas Besonderes vor sich geht. Und was dieser Schmetterling nicht selber beobachten kann, wird ihm von den verschiedenen Winden oder andere Insekten zugetragen, so dass sich die Handlung aus vielen kleinen Szenen zusammensetzt. Nur hier und da wechselt Caroline Vermalle die Perspektive, wenn es darum geht dem Leser die unausgesprochenen Gedanken ihrer Figuren zu vermitteln.

Mir sind die drei Hauptfiguren wirklich ans Herz gewachsen, obwohl das aufgrund der Schmetterlings-Perspektive und Jacquelines sprödem Wesen nicht so einfach war. Die alte Dame war eindeutig nicht glücklich in ihrer Ehe, wobei man beim Lesen nicht das Gefühl hat, dass ihr Mann Marcel das Problem war. Stattdessen scheint Jacquelines – schon vor 33 Jahren verstorbene – Mutter einen unguten Einfluss auf das Leben ihrer Tochter genommen und bis zum heutigen Tag vergällt zu haben. Sie war auch der Grund, warum der Kontakt zwischen Jacqueline und Nane abbrach, obwohl sich die Kusinen in den vergangenen Jahrzehnten sehr vermisst haben.

Nane ist ein deutlich lebenslustiger Charakter als Jacqueline. Sie hat früh einen Künstler geheiratet und sich selber als Bildhauerin einen Namen gemacht. Mit inzwischen achtzig Jahren genießt sie ihren Mittagschlaf im Garten, ihr liebevoll zubereitetes Essen und die vielen Besuche von Freunden und Familienmitgliedern. Obwohl auch ihr Leben nicht perfekt ist, scheint sie doch ihren Weg gegangen und letztendlich zufrieden zu sein. Zuletzt ist da noch Marcel, der nach dem Weggang von Jacqueline feststellen muss, dass es sehr vieles gibt, was er über seine Frau nicht wusste. Und weil man nicht über fünfzig Jahre Ehe einfach wegwerfen kann, will er zwei Fliegen mit einer Klappe erlegen. Auf der einen Seite will er sich einen Jugendtraum erfüllen, in dem er die Loire von der Quelle bis zur Mündung hinunter schwimmt und auf der anderen Seite will er so die Ile d’Yeu erreichen und dort – dank seiner großen Leistung – die Bewunderung (und die Liebe) seine Frau wiedererlangen.

Jacqueline stößt nicht nur bei Nane und Marcel viele Gedanken an, es werden auch einige weitere Personen durch ihre Handlungen beeinflusst und dazu veranlasst über ihr Leben und ihre Wünsche nachzudenken. Und je verzweifelter Jacqueline nach dem Punkt sucht, an dem sie sich verloren hat, und Ausschau nach einem Weg für ihre Zukunft hält, desto mehr Bewegung bringt sie in das Leben der Personen, die ihr nahe sind. Für den Leser gibt es so auch genügend Anlässe, um darüber nachzudenken wie wichtig die eigenen Hoffnungen und Wünsche sind und dass es nie zu spät ist, seine Prioritäten neu zu überdenken und sich an die Verwirklichung eines Traumes zu wagen.

Alles in allem hat mir die Geschichte wirklich gefallen, aber es gibt zwei Punkte, die dafür gesorgt haben, dass mich dieser Roman lange nicht so sehr bewegt hat wie „Denn das Glück ist eine Reise“. Erst einmal sind die Passagen, die aus der Sicht des Schmetterlings geschrieben wurden, sehr poetisch erzählt. Es sind bezaubernde kleine Szenen, die mich teilweise an die „windigen“ Passagen aus „Chocolate“ erinnert haben (während Nane Judi Dench Darstellung der Armande Voizin in der Verfilmung entsprach), aber diese Schmetterlingsszenen haben dafür gesorgt, dass ich die gesamte Handlung mit einem gewissen Abstand verfolgt habe. Die Geschichte wäre – in meinen Augen – so viel berührender und magischer gewesen, wenn sich die Autorin auf die einfache und reduzierte Erzählweise beschränkt hätte, die ihr Debüt ausgezeichnet hat.

Und dann gibt es am Ende des Romans einen Brief, den Jacqueline einer Freundin schreibt, und in dem sie erklärt, welche Teile der Handlung von ihr ausgeschmückt worden wären und welche nicht. Für mich wird damit eine wunderschöne und bewegende Geschichte radikal entzaubert. Ich möchte in so einem Buch keine Auflösung auf den letzten Seiten, die das Ganze „realistischer“ wirken lässt. Ich möchte den Roman zuklappen können und das Gefühl haben, dass da eine Autorin eine wunderschöne Geschichte voller leiser und bezaubernder Momente geschaffen hat, die in mir viele Gedanken und Gefühle ausgelöst hat. Und ich will am Ende eines solchen Buches das Gefühl haben, dass alles möglich ist und alles gut ausgeht, wenn man sich nur Mühe gibt …

Caroline Vermalle: Denn das Glück ist eine Reise

Manche Geschichten kommen ohne große Höhen und Tiefen aus und doch ist es so schön und befriedigend sie zu lesen – und genau so ein Buch ist „Denn das Glück ist eine Reise“. Ausnahmsweise gehe ich auch mal auf die Aufmachung des Buches ein, denn obwohl ich eigentlich Lila nicht so mag, finde ich diesen Lavendelton (der leider auf dem Foto eher blau aussieht) für den Roman sehr passend. Wenn ich kritisch sein wollte, dann könnte ich behaupten, dass das Cover überhaupt nicht stimmt. Georges und Charles sind in einem modernen Renault Scenic unterwegs – und der ist auch nicht weiß – und die Lavendelfelder sind eigentlich ein Markenzeichen der Provence, die am Mittelmeer liegt, und nicht der Bretagne, die an der Atlantikküste liegt. Aber für mich strahlt das Cover etwas liebevolles, altmodisches und französisches aus – und das passt wiederum perfekt zu dieser Geschichte. 😉

„Denn das Glück ist eine Reise“ von Caroline Vermalle ist der Debütroman der Autorin. In diesem Buch begleitet der Leser den 83-jährigen Georges und seinen sieben Jahre jüngeren Nachbarn Charles auf einer Reise. Die beiden alten Männer haben sich vorgenommen mit einem Auto (welches extra für dieses Vorhaben gekauft wurde) die einzelnen Routen der Tour de France abzufahren. Für Georges ist dies die Erfüllung eines Lebenstraums – und doch hat er so einige Ängste bezüglich dieser Reise. Schon seit Jahren geht es mit seiner Gesundheit bergab, außerdem ist er so in seinem Alltagstrott gefangen, dass ihn die Veränderungen, die mit seinem Plan einhergehen, sehr unsicher machen.

Aber wenn er nicht jetzt, da seine Tochter Françoise für zwei Monate verreist ist und ihn nicht im Auge behalten kann, losreist, dann wird das wohl nichts mehr mit der Fahrt, bevor er stirbt. Nur kommt blöderweise seine Enkelin Adèle hinter das Vorhaben ihres Großvaters, doch solange dieser ihr jeden Abend eine SMS schickt, in dem er schreibt, an welchem Ort er ist und dass es ihm gut geht, verrät sie ihn nicht an die Mutter. So beginnt eine wirklich berührende Geschichte, die ich kaum aus der Hand legen wollte.

Ich habe es genossen zu erleben, dass Georges, der in den letzten Jahren etwas mutlos und depressiv geworden war, wieder entdeckt wie wunderbar das Leben ist. Während Charles am Steuer sitzt, genießt Georges die Schönheit der Bretagne. Gemeinsam erkunden sie die Ortschaften entlang ihres Weges, machen ein Picknick oder genießen einen lustigen Abend in einer Crêperie. So vertieft sich die Freundschaft der beiden älteren Herren, die bislang „nur“ ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis hatten. Dabei kommt es auf dieser Reise auch zu kleineren und größeren Auseinandersetzungen, weil jeder von ihnen einen Dickkopf und ganz genaue Vorstellungen vom Ablauf der Fahrt hat.

Sehr schön ist es auch, dass Georges auf andere Menschen zugehen muss, um die Bedingungen seiner Enkelin Adèle zu erfüllen. Denn der Großvater hat keine Ahnung davon, wie er das Handy bedienen muss, welches er mal von seiner Tochter geschenkt bekommen hatte. Doch eine Rezeptionistin zeigt ihm wie man SMS schreibt und ein Kellner weist ihn in die Geheimnisse der SMS-Sprache ein. Hat Georges sich anfangs nur unwillig auf das verhasste moderne Gerät eingelassen, so genießt er es im Laufe der Zeit, dass er per SMS all seine schönen Erlebnisse mit seiner Enkelin teilen kann. Auch für Adèle werden die SMS ihres Großvaters zu einem Lichtblick, während sie in London einem eher frustrierendem Praktikum nachgeht. Georges Liebe für die Bretagne, all seine Erlebnisse und Erfahrungen, bringen ihr den Großvater (den sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte) deutlich näher.

Ich hatte Georges, Charles und all die anderen Charaktere schnell in mein Herz geschlossen und bin voller Freude mit ihnen auf die Reise gegangen. Obwohl Frankreich nicht gerade an der Spitze meiner Wunsch-Reiseziele steht, hatte ich beim Lesen (und auch nach dem Buch) das Bedürfnis all diese Orte persönlich zu sehen, einen Blick auf einen kleinen Fischerhafen zu werfen, zu erleben wie der Atlantik an die Küste braust und in einem kleinen Restaurant zu essen und dabei den Menschen bei ihrem Alltag zuzuschauen. Dabei beschreibt Caroline Vermalle die Bretagne nicht mit ausufernden Worten, sondern hält sich sehr zurück und reduziert die Landschafts- und Ortsbeschreibungen auf das Nötigste. Für mich wurde der Roman gerade deshalb zu einer wundervoll atmosphärischen Reise, bei der ich viel gelacht und am Ende ein wenig geweint habe. Auf jeden Fall habe ich dieses Buch in vollen Zügen genießen können und kann es jedem von euch, der sich auf eine kleine, feine und wunderschöne Geschichte einlassen mag, nur ans Herz legen.

Agnès Desarthe: Mein hungriges Herz

Wieder ein Buch, bei dem der Klappentext in mir andere Erwartungen geweckt hatte als letztendlich erfüllt wurden.

Der Verlagstext lautet:

Seit Myriam von ihrer Familie verstoßen wurde, sucht sie nach einem neuen Sinn in ihrem Leben. Nach Jahren zielloser Wanderschaft eröffnet sie in Paris ein kleines Lokal namens Chez moi. Das ungewöhnliche Restaurant wird schnell zum Lieblingstreffpunkt des Viertels, und Myriam findet in ihren Nachbarn und Gästen eine neue Familie. Doch kann man die Vergangenheit einfach so hinter sich lassen?

Den Anfang von „Mein hungriges Herz“ fand ich noch sehr reizvoll. Agnès Desarthe zeigt hier eine recht entschlossene Myriam, die einen Haufen Dokumente fälscht und Geschichten erzählt, um sich den Traum vom eigenen Restaurant erfüllen zu können. Mir hat es gefallen, wie sich die Frau provisorisch in ihrem Café „Chez moi“ eingerichtet hat, wie sie auf einer gepolsterten Bank schläft und sich in ihrem Spülbecken ein Bad gönnt, weil sie sich eine Wohnung neben dem Restaurant nicht leisten kann. In diesen Aktionen steckt so ein Wille zum Überleben, so ein Bedürfnis sich diesen einen Traum zu erfüllen, das fand ich schön!

Doch als das Café so langsam anläuft, wird die Geschichte für mich immer seltsamer. Myriam philosophiert über die verschiedenen Gäste, über ihre Geschäftsnachbarn und über ihre eigene Stellung in der Welt – und mit diesen Passagen hat es mir die Autorin sehr schwer gemacht bei der Stange zu bleiben. Für mich waren die Gedanken von Myriam oft nicht nachvollziehbar, zu abgehoben, zu pathetisch, zu … fremd. Und zwar auf eine Art und Weise, die ich nicht interessant, sondern ermüdend fand. Wieder einmal war es hier eine Nebenfigur, die dafür sorgte, dass ich weitergelesen habe.

Denn obwohl Myriams Restaurant gut besucht ist und die Leute ihr Essen und ihre Ideen lieben, bekommt sie ihre Finanzen und all die anderen Dinge, die zu beachten sind, nicht in den Griff. Was auch daran liegt, dass sie zum Beispiel zwei Studentinnen, die sie ins Herz geschlossen hat, die teuersten Gerichte vorsetzt, ohne dass die beiden angemessen dafür bezahlen müssen. Immerhin sind es auch diese beiden Mädchen, die ihr empfehlen Ben als Kellner anzustellen. Ihr Argument ist es, dass sich Myriam so mehr auf das Kochen konzentrieren kann, während sich Ben um die Gäste kümmern wird. Aber der junge Mann bedient nicht nur die hungrigen Besucher des „Chez moi“, sondern sortiert unauffällig auch Myriams Leben neu. Er sorgt dafür, dass dringende Rechnungen bezahlt werden, dass sich die Köchin nach dem richtigen Lieferanten umschaut und dass sich Myriam wieder mehr auf sich konzentrieren kann.

Denn Myriam wirkt – je erfolgreicher das Restaurant ist – immer verlorener. Als Leser weiß man zwar, dass es zu einem Bruch mit ihrer Familie kam, aber erst so nach und nach erfährt man, was wirklich passiert ist. Auch hier hatte ich das Gefühl, dass mir die Autorin nicht so ganz erklären kann, warum dieser eine Vorfall zu einer solchen Zerstörung von Myriams Persönlichkeit geführt hat. Einzig die Andeutungen, dass sie sich noch nie wie andere gefühlt hat und dass sie auch damals ihren Mann vor allem geheiratet hat, um ein beständiges und „normales“ Leben zu führen, hat mich etwas mit dieser Grundsituation versöhnt.

„Mein hungriges Herz“ gehört wieder einmal zu den Büchern, bei denen ich die Idee, die Figuren und die Sprach zwar würdigen kann, aber bei denen ich das Fazit ziehen muss: Für mich ist das nichts! Und das obwohl ich mich am Ende in die Geschichte eingefunden hatte und mich über den Schluss freuen konnte. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass Agnès Desarthe oder daran, dass ich eben auch mit einer bestimmten Form von „Frauenroman“ nichts anfangen kann, aber so ist es eben. Das wird mich allerdings nicht daran hindern, immer wieder zu solchen Büchern zu greifen, in der Hoffnung darin eine berührende und ungewöhnliche Geschichte zu entdecken.