Der zweite Band des Dalemark-Quartets von Diana Wynne Jones – den ich bis zu diesem Lesen noch nicht kannte – bringt den Leser wieder in den Süden von Dalemark, genau genommen in das Reich des Herzogs Hadd. Dabei wird die Geschichte in „Drowned Ammet“ zu Beginn aus der Sicht von Mitt erzählt, den der Leser von seinen ersten (überraschend sorgenfreien) Lebensjahren an begleitet, nur um mitzuerleben, wie aus dem zufriedenen kleinen Jungen ein Mensch voller Rachefantasien und Hass wird. Denn Herzog Hadd ist ein grausamer und streitsüchtiger Mann, der keine Hemmungen hat, sein Volk mit seinen Steuern um seine Lebensgrundlage zu bringen. Auch Mitts Eltern gehören zu denen, die wenige Jahre nach Mitts Geburt ihr weniges Hab und Gut verlieren und Tag für Tag um ihr Überleben kämpfen müssen. Die Menschen in seinem Land fürchten den Herzog, seine Soldaten und seine Spitzel, und so ist es kein Wunder, dass neben Armut und Angst auch die Wut und der Wille zur Rebellion in seinem Volk wachsen.
Auch Mitts Vater Al (beide heißen mit vollem Namen Alhammit) schließt sich nach dem Verlust seines Hofes in der Hafenstadt Holand einer Gruppe von Freiheitskämpfern an, doch er und seine Gefährten werden vor der Durchführung eines geplanten Anschlags verraten. Nachdem Mitt mit seiner Mutter zurückbleibt, schließt auch er sich den Freiheitskämpfern an, und ich muss zugeben, dass das ein Punkt war, wo mich Diana Wynne Jones ausnahmsweise nicht überzeugen konnte. Ich musste mir beim Lesen dieser Kapitel rund um Mitts Aufwachsen und sein Engagement für die Freiheitskämpfer immer wieder vorrechnen, dass Mitt noch sehr jung ist. Seine Familie kann es sich nicht leisten, ihn zur Schule zu schicken und er hat keine gleichaltrigen Freunde, mit denen er auf den Straßen spielen könnte. Stattdessen fängt er als Achtjähriger an, auf einem Fischerboot zu arbeiten, und alles, was er Tag für Tag hört, sind Klagen über die Ungerechtigkeit des Herzogs. Und wenn meine Rechnung stimmt (die auf so groben Angaben basiert wie „beim nächsten „Holand Sea Festival“, „im folgenden Sommer“ oder „wenige Wochen später“, dann ist er gerade mal elf oder zwölf Jahre alt, als er einen Anschlag auf den Herzog verübt.
Ein Kind, das unter diesen Umständen aufwächst, ist deutlich „erwachsener“ als ein Kind, das eine sorgenfreie Kindheit verbringen kann und sich keine Gedanken darüber machen muss, wo die nächste Mahlzeit herkommt. Auf der anderen Seite ist Mitt nicht erwachsen genug, um wirklich die Konsequenzen seines Tuns überblicken zu können, oder um die Motive und Aussagen anderer Menschen zu hinterfragen und sich seine eigene Meinung bilden zu können. Gerade seine emotionale Abhängigkeit von seiner Mutter erklärt sich für mich sehr dadurch, dass er eigentlich noch ein Kind ist. Dass ich mir aber all diese Dinge immer wieder vor Augen halten musste, hat für mich diese Kapitel etwas schwierig zu lesen gemacht, obwohl ich die Grundsituation spannend fand. Ich weiß nicht, ob ich als Kind/Jugendliche diese Passagen anders wahrgenommen hätte. Aber ich glaube, ich hätte damals auch schon Kleinkind-Mitt, der nicht verstehen kann, wieso seine Nachbarn Angst vor dem Soldaten haben, mit dem er sich gerade angefreundet hat, lieber gemocht, als den achtjährigen Mitt, der anscheinend nur zu seiner Mutter so etwas wie Zuneigung empfinden kann und für den alle anderen Menschen nur Mittel zum Zweck zu sein scheinen.
Auf der anderen Seite bekommt man die Geschichte aus Sicht von Hildy (Hildrida), der Enkeltochter von Herzog Hadd, erzählt. Hildys Temperament ähnelt von klein auf einer Naturgewalt, und nicht einmal ihr Vater traut sich, sich gegen sie zu stellen, wenn sie schlechte Laune hat. Dabei ist Hildy kein verwöhntes Kind oder eine Nervensäge, sie ist nur schrecklich frustriert von ihrer Rolle als Schachfigur bei den politischen Spielen ihres Großvaters, davon, dass ihr Vater seit dem Tod ihrer Mutter so gleichgültig geworden ist, und von all den anderen kleinen und großen Ungerechtigkeiten, die sie so erlebt. Hildy ist nicht gerade ein netter Charakter, aber ich fand sie auf Anhieb sympathisch. So ist es auch kein Wunder, dass die Geschichte für mich deutlich anzog, als Hildy, ihr Bruder Ynen und Mitt nach der Hälfte des Romans aufeinandertrafen und sich von diesem Zeitpunkt an mit ihrer eigenen Vergangenheit, ihren Illusionen bezüglich der eigenen Person und ihren Vorurteilen gegenüber anderer Gesellschaftsschichten auseinandersetzen mussten. Dazu kamen noch wunderbar atmosphärische Segelszenen und ein Hauch Magie, und schon fühlte ich mich mit „Drowned Ammet“ wieder wohl und war neugierig auf die weitere Entwicklung der Geschichte.
Am Ende kann ich verstehen, wieso Diana Wynne Jones die erste Hälfte des Romans so erzählt hat, aber ich muss zugeben, dass mich dieser Teil trotzdem nicht ganz so überzeugt hat, wie es ihre Bücher normalerweise tun. Erst beim Lesen der zweiten Hälfte kam für mich das Gefühl auf, ich würde eine „richtige“ Diana-Wynne-Jones-Geschichte lesen, mit all ihren Untertönen und ihren bitteren und amüsanten Momenten. Doch während ich bei „Cart and Cwidder“ am Ende zufrieden mit dem Ausgang der Handlung und den Andeutungen über Morils Zukunft war, fühlen sich hier die letzten Seiten an, als ob mir die Autorin bislang nur einen langen Prolog erzählt hätte – und nun muss ich auf den vierten Teil der Reihe („The Crown of Dalemark“) warten, um zu erfahren, wie das Ganze ausgeht. Doch bevor ich zum vierten Band greife, werde ich erst einmal „The Spellcoats“ aus dem SuB fischen und mich mit der Geschichte in die Vergangenheit von Dalemark begeben.