Seitdem ich vor zwei Jahren den Jane-Austen-Schuber zum Geburtstag bekommen habe, möchte ich die Romane wieder lesen. Als ich dann Mitte November feststellte, dass mir die Zeit für die „100 Bücher“-Challenge davonlief (und dass die Bibliothek die dafür vorgemerkten Titel wohl nicht mehr rechtzeitig zur Verfügung stellen kann), nahm ich mir vor, dass ich diese Challenge – und somit vermutlich auch mein „Lesejahr“ – mit einem Titel von Jane Austen beenden werde. Meine Wahl dafür ist auf „Überredung“ gefallen, eine meiner Lieblingsgeschichten von Jane Austen, die aber – zumindest empfinde ich das so – von den meisten Leuten weniger geschätzt wird als „Stolz und Vorurteil“, „Verstand und Gefühl“ oder „Emma“.
Ich muss zugeben, dass Anne als Hauptfigur deutlich weniger im Mittelpunkt der Geschichte steht als andere Charaktere von Jane Austen. Während sich bei den anderen Romanen die Handlung zum Großteil um die Protagonisten arrangiert und die Nebenfiguren nicht so präsent sind wie diese, habe ich bei „Überredung“ das Gefühl, dass Anne deutlich weniger ins Auge fällt. Sie hat so viele Jahre ihre Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche unterdrückt, dass sie dem Leser vor lauter Zurückhaltung weniger nah kommt – und doch lernt man all die Nebenfiguren vor allem dadurch kennen, wie sie Anne behandeln, wie sie sie und ihre Aufmerksamkeit als selbstverständlich nehmen und wie sie sie ebenso selbstverständlich zugunsten ihrer eigenen (und häufig sehr egoistischen)Wünsche in die Ecke drängen.
Durch diese erzwungene Passivität ist Anne aber auch eine perfekte Beobachterin geworden. Sie sieht die Gefahr, die von einer Bekannten ihrer älteren Schwester Elizabeth ausgeht, sie ist gegenüber dem wiederentdeckten Cousin Mr. Elliot zurückhaltender als der Rest ihres Bekanntenkreises und wenn man es genau nimmt, dann sah sie schon als junge Frau die Qualitäten in Kapitän Wentworth, die letztendlich zu seinem beruflichen und finanziellen Erfolg führten. So bescheiden sie in allen Dingen ist, so haben die Jahre, in denen sie bedauerte, dass sie sich nicht über den Einfluss von Freunden und Verwandten hinweggesetzt hat und dass sie nicht ihrem Herzen gefolgt ist, dann doch dafür gesorgt, dass sie – bei aller Zurückhaltung und Höflichkeit – ein Rückgrat und feste Ansichten entwickelt hat.
Angenehmerweise schreckt sie auch nicht davor zurück, diese Ansichten zu teilen. Für mich sind das häufig die schönsten Szenen im Buch, diese kleinen Momente, in denen sie im Gespräch mit einer anderen Person ist und ihre Meinung äußert. Hier wird oft deutlich, dass die meisten ihrer hochgeborenen Gesprächspartner recht dumm und oberflächlich sind, weil sie Annes wohldurchdachte Meinung herabsetzen oder nicht ernst nehmen. Diese subtile Kritik an der Oberflächlichkeit einer Gesellschaft, die auf den Rang, den Namen und das Äußere einer Person setzt, statt sich auf das Benehmen und die Intelligenz zu konzentrieren, mag ich sehr. Ebenso schön finde ich es, dass in „Überredung“ immer wieder betont wird, dass die Herkunft oder das manchmal etwas ungehobelte Benehmen einer Figur vollkommen verzeihlich ist, wenn Herzensgüte, Bildung und Anstand ihr Verhalten bestimmen.
Und gerade nach dem Lesen von „Jane Eyre“, wo von der Erzählerin auf jede Gemütsregung eingegangen und ständig eine Nabelschau abgehalten wird, genieße ich die Zurückhaltung und Einfachheit der Erzählweise in „Überredung“. Anne ist in allen Belangen sehr vorsichtig, sie will weder verletzen noch verletzt werden, und so kann man als Leser nur hier und da erahnen, wie sehr sie in den vergangenen Jahren gelitten hat und wie sehr sie nun aufgewühlt ist, weil es ein Wiedersehen mit Kapitän Wentworth gibt. Besonders deutlich wird Annes Situation in den kleinen Nebenbemerkungen, wenn sie zum Beispiel über die innige Verbundenheit der Schwestern Musgrove nachdenkt oder über die Ehe der Crofts und dadurch deutlich wird, wie sehr sie eine Vertraute vermissen muss und wie sehr sie sich nach einer harmonischen Beziehung sehnt. Aber nicht einmal in diesen Szenen klagt sie über ihr Schicksal, sondern arrangiert sich mit ihrer lieblosen Familie und versucht, das Beste aus ihrer Situation zu machen.
Ich habe zwei schöne Tage mit Anne verbracht und mich an all den kleinen Momenten erfreut, in denen sie Hoffnung schöpfte, Rückgrat zeigte und mich mit ihren – zum Teil erstaunlich spitzen – Beobachtungen unterhalten hat. So hat mir die „100 Bücher“-Challenge das Jahr hindurch nicht nur erlaubt, einige Neuentdeckungen zu machen, sondern auch die Gelegenheit gegeben, einige schon bekannte Klassiker neu zu entdecken. Ich finde es immer wieder schön und spannend, welche neuen Facetten mir an einer Geschichte auffallen und an welche Aspekte ich mich noch klar erinnerte, obwohl das letzte Lesen einige Jahre her ist.
Sosehr ich "Stolz und Vorurteil" schätze und auch "Northanger Abbey" mag (ich habe den Eindruck, dass ich da auch Teil einer Minderheit bin), hat sich über die Jahre "Überredung" auch zu meinem Lieblingsroman von Jane Austen entwickelt. Es hat viel mit der Grundstimmung zu tun, mit dem in sich Ruhen der Protagonistin – auch wenn das Auftauchen von Wentworth Wellen schlägt 😉 – und, dass Anne im Gegensatz zu Fanny Price aus Mansfield Park nach meinem Empfinden nicht so, hm, verhuscht und nicht so ein Moralapostel ist. 😉
Ich habe "Persuasion" zwar noch nicht gelesen, aber von den Verfilmungen her steht die Geschichte zusammen mit P&P definitiv auf Platz 1. Emma mag ich als Geschichte nicht so, als Verfilmung dann schon eher und z.B. S&S finde ich gar nicht wirklich gut, zumindest mochte ich noch keine Verfilmung… Ich muss aber irgendwann endlich mal alle Jane Austen Romane lesen, habe auch einen Jane Austen Schuber, nur auf Englisch. ^^ Schön mit HCs und Goldschnitt und so 😀
Das hast du sehr schön geschrieben – das kann ich so komplett unterschreiben, bloß dass ich es nicht so fassen und so treffend formulieren könnte. Du fasst in Worte, was ich immer fühle bei dem Buch und nicht so ganz ausdrücken kann. 🙂
Anne ist anders, und "Überredung" ist in sich auch anders, ein bisschen ernster vielleicht als die anderen Romane. Aber ich mag diese feine Melancholie gerade sehr gerne, die trotzdem das satirisch-scharfzüngige Element natürlich nicht ganz auslässt. Aber ich habe immer so ein bisschen das Gefühl: So gern sie Lizzy, Elinor und vor allem Emma gehabt hat, bei Anne hat Jane Austen ihr Herz ganz in den Roman geschrieben. 🙂
Und du hast so recht – Anne ist eine stille Heldin, die auf ihre ruhige Art mindestens genauso stark ist wie Elizabeth Bennet oder Emma Woodhouse. Und das finde ich toll.
Hast du damit dann jetzt die 12 Bücher geschafft?
@Natira: Wobei ich Fanny auch erfrischend finde. Sie spricht Themen an, die für diese Zeit ungewöhnlich und fortschrittlich sind.
@Lucina: Ich weiß nicht, ob du Hörbücher magst, aber du könntest einen Versuch hiermit wagen: http://winterkatzesbuchblog.blogspot.de/2010/12/jane-austen-verstand-und-gefuhl.html Eva Mattes liest die Geschichte sehr schön und betont die Aspekte, die ich an den Charakteren sehr schätze. Auf Englisch benötige ich auch immer Überwindung, aber so ein hübscher Schuber sollte dich doch zum Lesen reizen. 🙂
@Birthe: Ich bin mir sicher, dass du es mindestens genauso ausdrücken könntest, wenn du zwei Tage lang mit meinem Mann über das Buch geredet hättest, um ihm deutlich zu machen, was so hübsch an der Geschichte ist. 😉
"Überredung" ist ein sehr "erwachsener" Roman und die ganze Stimmung passt zum Herbst. Ich finde es auch schön wie grau und gedrückt Anne am Anfang ist und wie sie nach und nach auflebt, während sie die Vergangenheit hinter sich lässt und wagt an eine Zukunft zu denken. Ich glaube, dass Jane Austen Anne in vielem ihre Lebensansichten zum Ausdruck bringen ließ. In gewisser Weise wäre Anne als "alte Jungfer" ganz zufrieden, wenn sie nicht auf ihre Liebe hätte verzichten müssen – und in den Briefen, die von Jane Austen noch vorhanden sind, wird immer wieder deutlich, wie sehr sie es genossen hat Tante zu sein, gebraucht zu werden und doch gewisse Freiheiten zu haben.
Oh, und ja, damit habe ich die zwölf Bücher geschafft. 🙂
Ich muss ehrlich sagen, dass mir von allen Jane Austen-Romanen "Überredung" am wenigsten gefällt (neben "Mansfield Park") und zwar deshalb, weil mir das bei den Figuren zuviel schwarz-weiß-Zeichnung ist. Anne ist gut und zwar durch und durch; ihr Vater und ihre Schwestern sind dagegen dumm und oberflächlich, durch und durch.
Interessant also, wie unterschiedlich man diesen Roman lesen kann. Für mich ist er alles andere als subtil, eher ein Holzhammer mitten auf den Schädel, mit der Aussage: Schaut her, wie gut und fehlerlos und wunderbar Anne ist, die von ihrer fehlerhaften und fürchterlichen Familie nicht geschätzt wird. 😉
Dass Anne stark ist, finde ich auch. Aber ich finde leider gleichzeitig ihren perfekten Charakter wahnsinnig langweilig. 🙁
@Neyasha: Ich finde Anne nicht durch und durch gut, für mich ist Anne jemand, der im Laufe der Jahre gewachsen ist. Wenn man sich ihren Charakter zur Zeit der Verlobung vorstellt, dann ist sie zu schwach und nachgiebig. Ihr fehlt der eigene Wille und die Objektivität, wenn es um die wenigen Menschen geht, die ihr am Herzen liegen.
Und auch bei ihrem Vater sehe ich eine Entwicklung – wenn auch zum Schlechten. Denn wenn man die wenigen Passagen liest, in denen es um seine Ehe geht, dann steht da zwar, dass sein Charakter für seine Frau eine Enttäuschung war, aber auch, dass er unter ihrem Einfluss nicht so egozentrisch und oberflächlich war.
Insgesamt hast du schon recht, gerade die "höhere Gesellschaft" wird in diesem Roman sehr einseitig und sehr "schwarz" beschrieben, aber ich glaube, dass es diesen Kontrast auch benötigt, um eben die Mitglieder der Marine und ihre Familien zu erhöhen. Und dieses Mittel schiebe ich auf die Zeit, inmitten der Nachkriegsstimmung und der Dankbarkeit, die gegenüber den Seefahrern (und damit auch gegenüber den Männern in Jane Austens Familie, die zur See gegangen sind) herrscht, konnte ein solcher Roman vermutlich keinen anderen Ton haben.
Hörbücher sind bei mir das Problem, dass ich nebenbei nichts anders machen kann und dann die Zeit als etwas verschwendet ansehe, weil selber Lesen nun einmal schneller geht. 😀 Aber ich behalts im Hinterkopf. Und es gibt es sogar in der Bibliothek… Also da würde ich dann schon eher zuschlagen, wenn ich es dort sehen sollte. 😉
Solche Klassiker auf Englisch zu lesen erfordert auch bei mir sehr viel Motivation, die ich selten habe. Ich habe schon weniger Lust auf Klassiker und dann auf Englisch? Da hilft auch der Schuber nichts, da sage ich mir eher: Was wenn die Bücher danach nicht mehr so toll aussehen? 😀 Aber der Schuber ist wirklich toll… Mit Leineneinband, Goldschnitt, Lesebändchen, Schutzumschlag, also alles was das Herz begehrt. Ich will von denen auch noch den Sherlock Schuber. XD
@Lucina: Ich höre Hörbücher beim Handarbeiten oder bei Hausarbeiten, die ein bisschen länger dauern und bei denen ich nicht viel Lärm mache. Staubsaugen geht da nicht, aber der Abwasch oder Bügeln sind perfekte Hörbuch-Gelegenheiten. Dann hat man bei eigentlich stupiden Tätigkeiten doch noch etwas Unterhaltung. 😉
Also eher ein Schuber zum Angucken, als einer zum Lesen. 😀 Hm, ein Sherlock-Holmes-Schuber klingt auch gut! Da wollte ich auch schon länger mal nach einer Sammlung Ausschau halten … 🙂
Fanny Price – ich werde mir ihr weiterhin nicht warm. Es ist ja nicht so, als hätte sie nicht recht, wenn sie auf die Ungebührlichkeit von Verhalten hinweist oder Crawford nicht vertraut, aber sie wirkt so altjüngferlich und moralisch in ihrem Alter. All das und das Verhuschte ist auch aus dem Roman heraus erklärlich, aber, aber .. ach ich weiß auch nicht. 😉
@Lucina
Ich höre Hörbücher neben der Hausarbeit sehr gern auch beim Spazierengehen oder Puzzeln! 🙂
Erstmal HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH zum erfolgreichen Abschluss der Challenge. Ich habe mich heute wie im Fieber durch die letzten 150 Seiten von "The God of Small Things" gelesen und muss jetzt erstmal Luft holen, bevor ich mich morgen an eine Rezension wage :p
Ich freue mich schon auf nächstes Jahr, wenn ich wieder challengefrei Jane Austen lasen kann. Nachdem ich das Jahr mit Emma begonnen habe, war ja kein anderes Jane Austen Buch mehr drin (und mehr als 12 Listenbücher haben bei der Zeitknappheit dieses Jahr irgendwie auch nicht reingepasst… wenn ich in dem Tempo weiterlese, dauert das nochmal 3 Jahre bis ich mit der Liste fertig bin :p)
@Mila: Dankeschön! 🙂 Oh, "The God of Small Things" wollte ich eigentlich auch noch lesen, aber die Bibliothek wollte den Titel nicht schnell genug hergeben! Ich hoffe, das Buch hat dir gefallen – ich bin auf jeden Fall schon gespannt auf deine Meinung.
Dein Jahr hat dir ja auch eine ganze Menge Veränderungen gebracht, kein Wunder, dass dir ein wenig die Lesezeit fehlte. Es hetzt dich ja keiner bei deinem Vorhaben und ich finde es toll, was du so für Bücher entdeckst, die du vermutlich sonst nicht so schnell angelesen hättest! 🙂
Ich muss ja gestehen, das ich Überredung nur einmal gelesen habe und irgendwie reizt mich das Buch auch nicht so sehr zum Re-Read wie es z.b. "Emma" immer wieder mal tut. Vermutlich bin ich mehr der Jane Eyre Typ – denn das Buch habe ich schon mehrmals gelesen und werde dessen nie müde. Also, bisher nicht. 😉
@Hermia: Bei "Emma" habe ich wirklich – vor allem zu Beginn – ein Problem mit der Hauptfigur. Ich genieße das Buch, wenn ich erst einmal drin bin, aber ich habe immer Probleme damit anzufangen. *g*
Ich finde es spannend, dass es "Jane Eyre"- und "Jane Austen"-Typen gibt. Und ich wünsche dir weiterhin viel Spaß mit dem Roman! 🙂