Obwohl Jiro Taniguchi die Handlung aus „Die Sicht der Dinge“ frei erfunden hat, gibt es doch sehr viele persönliche Elemente, die der Mangaka in dieser Veröffentlichung verarbeitet hat. So spielt die Geschichte in Tottori – der Stadt, in der Jiro Taniguchi aufgewachsen ist – und er hat für viele Szenen auf Kindheitserinnerungen oder Gefühle, die er Jahre später so empfunden hat, zurückgegriffen. So gab es für den Mangaka ebenso wie für den Protagonisten Yoichi eine Spanne von 15 Jahren, in der er seine Heimatstadt nicht besuchte und erst wieder das Vertraute zwischen all den Veränderungen, die es in dieser langen Zeitspanne gegeben hat, neu entdecken musste.
Für Yoichi ist der Anlass für die Heimkehr an seinen Geburtsort sehr traurig, da er an der Totenwache für seinen Vater teilnehmen soll. Dabei wird für den Leser von Anfang an deutlich, dass sich der Mann seinem verstorbenen Vater nicht sehr nahe gefühlt hat und eigentlich gar nicht erst die Reise antreten möchte. Doch je länger er all den Menschen auf der Totenwache zuhört, die von ihren Erinnerungen an seinen Vater erzählen, desto mehr denkt auch er über seine Familie nach. Es kommen ihm Szenen und Ereignisse in den Sinn, an die er seit vielen Jahren nicht gedacht hat und die er – aus der Sicht des Erwachsenen und mit mehr Wissen über seine Eltern – auf einmal ganz anders wertet als früher.
So kann der Leser nach und nach mehr über Yoichi und seine Familie herausfinden, was nicht nur zu einer wunderschönen (wenn auch häufig melancholischen) und sehr sensibel erzählten Familiengeschichte führt, sondern auch einen faszinierenden Einblick in das Leben dieser japanischen Küstenstadt in den 50er Jahren bietet. Dabei sticht ein Ereignis besonders hervor: Das große Feuer vom 17. April 1952, das einen Großteil der Stadt in Schutt und Asche legte. Ein historisches Foto von diesem Feuer ist auch zu Beginn des Buches zu finden und es ist erschreckend, wie wenig nach diesem Brand von der Stadt noch vorhanden war. Für Yoichis Familie bedeutet dieses unglaubliche Feuer nicht nur den Verlust aller Besitztümer, sondern auch die allmähliche Zerrüttung der Ehe seiner Eltern. Dabei fand ich es sehr spannend, wie die einzelnen Familienmitglieder mit allen der Veränderungen umgingen und wie nach und nach die ganze Stadt wieder aufgebaut wurde.
Wie so oft bei einem Jiro-Taniguchi-Manga sind es aber vor allem die kleinen Szenen und Details, die mich besonders berühren. Die kleinen Elemente, die mir das Gefühl geben, ich bekäme einen Einblick in den (historischen) japanischen Alltag, faszinieren mich einfach besonders. Wobei ich es hier spannend fand, dass es eine Erinnerung von Yoichi gibt, in der es um die Amerikaner als Besatzungsmacht in Japan geht. So ist mir das bislang weder in Filmen, noch in Manga untergekommen, auch wenn die amerikanischen Soldaten – gerade in Veröffentlichungen aus den 50er und 60er Jahren – immer mal wieder auftauchen. Aber normalerweise stolpere ich eher entweder über Kriegsschiffe in den Häfen (und Bemerkungen dazu) oder feiernde US-Soldaten in Clubs und weniger über so eine kleine Szene, die den Besatzungsalltag deutlich macht.
Über Jiro Taniguchis Zeichenstil muss ich vermutlich nicht mehr viel sagen. Auch hier legt er Wert auf eine realistische und detaillierte Darstellung und ich bin immer wieder fasziniert davon, wie fein er die Gefühlsregungen bei den verschiedenen Personen darstellt. Sein einziger Schwachpunkt ist das Zeichnen von (geöffneten) Mündern, die sind oft nicht hübsch anzuschauen, aber damit kann ich definitiv leben. 😉
Das klingt mal nach einem Manga, der auch was für mich sein könnte! 🙂
Taniguchi ist auf jeden Fall ein Mangaka, der sowohl "anfängergeeignet" ist, als auch für Leute, die sonst nicht so gern Bildergeschichten lesen. Man muss nur damit leben können, dass seine Geschichten sehr ruhig erzählt werden. Meinen Mann ist er zu langsam in seinem Erzähltempo, mir gefällt es gerade gut.