Kazuto Tatsutas dreiteilige Mangareihe „Reaktor 1F – Ein Bericht aus Fukushima“ ist genau das, was der Untertitel sagt. Als (finanziell) nicht gerade erfolgreicher Mangaka war der Autor gerade auf Jobsuche, als die Katastrophe rund um das japanische Atomkraftwerk passierte. Um etwas zu bewirken und zumindest eine Zeitlang ein gesichertes Einkommen zu haben, hat er als Arbeiter rund um die Kraftwerksruine angeheuert. Es wurden gute Stundenlöhne versprochen (die Realität sah später dann etwas anders aus) und irgendjemand musste ja dafür sorgen, dass das Gelände wieder gesichert wird. Aber Kazuto Tatsuta hat sich auch gefragt, wie es denn nun wirklich in Fukushima ist, denn von der Politik, den Medien und den Bürgerbewegungen habe es unzählige gegensätzliche Aussagen zu den Schäden und den Folgen gegeben, die das Atomunglück verursacht hat.
Spannend finde ich bei dieser Veröffentlichung auch, dass Kazuto Tatsuta (der diesen Manga unter Pseudonym veröffentlicht hat) mit seinen Geschichten ein japanisches Gesetz umgehen konnte, das nach der Katastrophe von Fukushima geschaffen wurde, um die Pressefreiheit einzuschränken. Dieses Gesetz ermöglicht es der japanischen Regierung, bestimmte Informationen als „vertraulich“ einzustufen und Journalisten zu bestrafen, die darüber berichten. Doch ein Mangaka gilt als Künstler und nicht als Journalist, und so konnte Kazuto Tatsuta von seinen Erlebnissen berichten und die japanische Öffentlichkeit über die Vorgänge im Kraftwerk, den Alltag der Arbeiter und über die Erfahrungen und Ängste der Anwohner informieren.
Seinen ersten Einsatz (wegen der Strahlenbelastung sind nur kurze Beschäftigungszeiten möglich) hatte der Künstler im Frühsommer 2012 und der Manga beginnt damit, dass er einen typischen Arbeitstag eines Arbeiters in Fukushima zeigt. Das frühe Aufstehen, die vielen Strahlenkontrollen und die Schutzkleidung machen den Arbeitern gleichzeitig das Leben schwer und schützen sie. Doch dieser gefährliche Job ist eben auch Alltag für die vielen Männer, die das Gelände des Atomkraftwerks aufräumen, rückbauen und sichern. So ist es kein Wunder, dass an manchen Tagen eine juckende Nase viel schlimmer und präsenter ist, als der Gedanke an die Strahlung, der man dort während der Arbeitszeit ausgesetzt ist, und dass vor Ort die Gefahr größer ist, an einem Hitzschlag zu sterben als an der Strahlung.
Kazuto Tatsuta erzählt von den widerstreitenden Gefühlen derjenigen unter den Arbeitern, die aus der Region stammen. Auf der einen Seite haben sie im Tsunami oder durch die Sperrung der verstrahlten Gebiete alles verloren, auf der anderen Seite hatten sie und haben sie mit Tepco einen sicheren und gut zahlenden Arbeitgeber, ohne dessen Jobs diese ländliche Region nicht hätte überleben können. Besonders erschreckend fand ich, dass wohl immer wieder Leute ihre Dosimeter manipulierten, um länger arbeiten zu können, und ich hatte auch regelmäßig das Gefühl, dass der Erzähler und seine Kollegen – trotz aller Schutzkleidung und Kontrollen – etwas naiv an das Thema Strahlung herangingen. Aber gerade das ist ja auch das Interessante an so einem Erfahrungsbericht, denn so kann der Leser die Realität kennenlernen, unter der die Arbeiter in einem solch gefährlichen Gebiet arbeiten.
Interessant fand ich auch, dass der Mangaka immer wieder erwähnt, dass das alles nicht so schlimm sei, wie die Medien es darstellten. Allerdings stützt er seine Gedankengänge dabei auf Daten, die Tepco oder die Regierung in den Jahren nach dem Atomunglück veröffentlichten – und ich persönlich wäre da vermutlich viel kritischer angesichts der Tatsache, dass sich weder die japanische Regierung noch der Betreiber des Atomkraftwerks angesichts der Katastrophe von ihrer besten und vertrauenswürdigsten Seite gezeigt haben. Auf der anderen Seite war es auch angenehm, dass Kazuto Tatsuta versucht, keine Vorurteile zu haben. Er gibt sich Mühe, die verschiedenen Arbeitsbereiche so detailliert wie möglich darzustellen, und betont dabei den Alltag der Arbeiter und die Zusammenarbeit zwischen den Kollegen. Selbst bei seiner Darstellung der Sub-Unternehmer, unter denen es natürlich auch welche gibt, die sich auf Kosten der Angestellten bereichern wollen, versucht der Mangaka neutral zu bleiben und beide Seiten der Angelegenheit zu betrachten.
Ab dem zweiten Band gibt es auch Szenen, die sich mit den Hintergründen der Mangaveröffentlichung oder regionalen Besonderheiten rund um die Orte, in denen Kazuto Tatsuta während seiner Arbeit im Atomkraftwerk gelebt hat, beschäftigen. So erzählt er auch von den Bewohnern eines Altenheims, die sich danach sehnen, wieder in ihrer Häuser im Sperrgebiet ziehen zu können, von der offenen Bühne, auf der er ab und an mit seiner Gitarre auftrat, oder den unterschiedlichen Badehäusern, die er aufsuchte. Ich weiß nicht, ob ich einen Bericht über einen vergleichbaren Arbeitsplatz in einem unverseuchtem Gebiet so interessant gefunden hätte, aber ich fand es faszinierend, all diese kleinen und größeren Details zu erfahren.
Zuletzt noch ein Wort zum Zeichenstil des Mangaka: Die Zeichnungen sind sehr detailliert und realistisch gehalten und die verschiedenen Kapitel enthalten auch immer wieder Grundrisse oder Lagepläne, die es dem Betrachter ermöglichen, sich eine bessere Vorstellung von den verschiedenen Abläufen zu machen. Es gelingt Kazuto Tatsuta auch, die verschiedenen Kollegen – trotz der Atemmasken, die ja doch einen Großteil des Gesichts verdecken – so individuell zu zeichnen, dass man sie gut auseinanderhalten kann. Und immer wieder gibt es Panels, die von der Liebe des Zeichners zur Natur rund um Fukushima und von der unglaublichen Zerstörungskraft des Tsunamis zeugen. Insgesamt ist „Reaktor 1F“ für einen Manga ziemlich textlastig, aber ich fand es definitiv nicht zu viel, weil es so interessant war. Außerdem mochte ich die kleinen Nebenbemerkungen, die zum Teil im Nachhinein von dem Mangaka eingefügt wurden, um auf spätere Entwicklungen hinzuweisen oder eine Szene mit einem vorherigen Ereignis zu verknüpfen.