Jiro Taniguchi: Vertraute Fremde (Manga)

Die Grundidee ist bei „Die Sicht der Dinge“ und „Vertraute Fremde“ von Jiro Taniguchi eigentlich die gleiche. In beiden Geschichten geht es darum zurückzugehen und entscheidende Aspekte seiner Kindheit aus einer anderen Perspektive heraus zu betrachten. Doch während der Protagonist in „Die Sicht der Dinge“ durch all die Erzählungen der Trauergäste bei der Totenfeier seines Vaters an viele Aspekte aus seiner Kindheit erinnert wird und so – wenn auch leider zu spät – ein ganz neues Bild von seiner Familie gewinnt, reist der Architekt Hiroshi Nakahara durch die Zeit. Oder wie sonst kann man es sich erklären, dass er sich nach einem Besuch am Grab seiner vor 23 Jahren verstorbenen Mutter in seinem 14jährigen Körper wiederfindet? Als Vierzehnjähriger – ausgestattet mit dem Wissen und den Erfahrungen eines Erwachsenen – bekommt Hiroshi die Gelegenheit seine Familie (vor allem seinen Vater, der damals spur- und kommentarlos verschwunden ist,) aus einer ganz anderen Perspektive kennenzulernen und viele Dinge zu hinterfragen, die ihm als Jugendlicher gar nicht aufgefallen waren.

Vor allem kann Hiroshi es kaum glauben, wie glücklich seine Familie damals war. Gemeinsam mit seiner Großmutter, seinen Eltern und seiner kleinen Schwester verbringt er die Monate von der Kirschblüte bis zum Ende der Sommerferien und stellt nur immer wieder fest, wie liebevoll seine Eltern miteinander umgehen und wie viel harmonischer sein Familienleben im Vergleich zu dem seiner Klassenkameraden ist. Nur manchmal vergisst er, dass er kein 14jähriger mehr ist, und genießt es, wieder so leicht und frei zu sein wie ein Teenager. Doch die meiste Zeit grübelt er darüber, wie sehr seine Zeitreise wohl seine Umgebung beeinflusst und wie er herausfinden kann, was seinen Vater bewegt und was diesen dazu bringen wird, seine Familie zu verlassen. Dabei verplappert sich Hiroshi auch ab und an, vor allem gegenüber einem Mitschüler, dem er so einiges über die Zukunft und welche Ereignisse noch kommen werden erzählt.

Ich fand es sehr stimmig, dass Hiroshi nicht ganz normal in sein altes Leben als Teenager schlüpfen kann. Er hat sich in all den Jahren, die seitdem vergangen sind, stark verändert, hat viel gelernt (weshalb ihm jetzt die Schule überraschend leicht fällt) und ist natürlich von Erfahrungen geprägt worden, die er als Schüler nicht hätte vorhersehen können. So fällt es seiner Umgebung natürlich auf, wie sehr er sich verändert hat, auch wenn sie keine andere Erklärung für diese Veränderungen haben als die Pubertät und dass er langsam erwachsen wird. Es gibt viele Dinge, die ich an dem Architekten (vor allem in seinem normalen „erwachsenen“ Alltag) nicht sympathisch fand. Er scheint recht egoistisch zu sein, trinkt zu viel und all die Sensibilität, die er während seiner Zeitreise für die Menschen in seiner Umgebung aufbringt (wenn ihm sein eigener Kummer die Aufmerksamkeit dafür übrig lässt), fehlt ihm ansonsten wohl vollständig. Aber diese vielen verschiedenen Seiten machen ihn zu einem realistischen Protagonisten – ebenso wie sein Scheitern an vielen Stellen in der Geschichte.

So erzählt Jiro Taniguchi wieder eine sehr leise und nachdenklich machende Geschichte von einer Familie in den 50er Jahren in Japan (und ja, auch sie spielt wieder in der Nähe von Tottori), ohne dass ich – obwohl ich gerade erst „Die Sicht der Dinge“ gelesen hatte – das Gefühl hatte, er würde sich wiederholen. Hiroshi denkt über all die Veränderungen nach, die die kommenden Jahre für Japan bringen, erfährt aber auch mehr über die Folgen des Zweiten Weltkriegs für seine Eltern und beschäftigt sich für die Träume und Hoffnungen seiner Schulkameraden. Dabei schwebt über der ganzen Geschichte, selbst bei den lustigen oder besonders harmonischen Momenten, eine melancholische Stimmung, die einen immer wieder die Handlungen der verschiedenen Figuren hinterfragen lässt. Dass die Zeichnungen diese Atmosphäre wunderbar unterstützen und voller liebevoller Details und Feinheiten sind, die einem die Zeit und die Charaktere besonders deutlich vor Augen führt, muss ich vermutlich nach den Rezensionen zu Jiro-Taniguchi-Manga in den letzten Wochen gar nicht mehr betonen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert