Lena Gorelik: Die Listensammlerin

Ich habe keine Ahnung mehr, wie und wo ich über „Die Listensammlerin“ von Lena Gorelik gestolpert bin, aber vor ein paar Wochen meldete mir die Bibliothek, dass das Buch für mich zur Abholung bereit stünde. Gelesen habe ich es dann (mal wieder) am Tag vor der Abgabe und habe so einen sehr intensiven Dienstag mit Sofia, Anna, Flox, Grischa, Anastasia und dem Rest der Familie verbracht.

Auf der einen Seite erzählt „Die Listensammlerin“ von der unglücklichen Autorin Sofia, die seit der Geburt ihrer Tochter keine einzige Geschichte mehr geschrieben hat, mit ihrem Leben nicht zurechtkommt und die ich ehrlich gesagt auch als sehr anstrengend empfunden habe. Sofia ist es auch, die Listen sammelt. Schon von Kindheit an erstellte sie Listen über alle möglichen Dinge, ergänzte und pflegte sie und hob sie auf. Ihre Listen geben ihr Halt, wenn ihr das Leben zu viel wird, wenn es zu einer Ausnahmesituation kommt oder wenn sie etwas verarbeiten muss. Dabei drehen sich die Listen um so gut wie jedes Themengebiet von „Sätze, die ich niemals sagen wollte“ über „Szenen meines Lebens, die aus einem (Hollywood-)Film stammen könnten“ bis zu „Momente, in denen ich Frank [das ist ihr Stiefvater] weinen sah“.

Sofias Passagen erstrecken sich eigentlich nur über wenige Tage. Tage, in denen sie auf die dritte Operation ihrer mit einem Herzfehler geborenen Tochter wartet, in denen sie ihre an Alzheimer erkrankte Großmutter im Pflegeheim besucht, in denen sie die frühere Wohnung der Großmutter ausräumt, in denen sie sich an die vergangenen zwei Jahre erinnert, in denen sie und ihr Freund Flox mit der Krankheit und dem möglichen Tod von Anna fertig werden mussten, in denen sie sich mit ihrem Verhältnis zu ihrer Mutter Anastasia beschäftigt und in denen sie herausfindet, dass sie nicht die einzige Person in der Familie ist, die Listen schreibt.

Der andere Erzählstrang beginnt sehr viel früher in der Sowjetunion und erzählt von Grischa, der mit seinen Eltern, seinem großen Bruder Andrej und seiner kleinen Schwester Anastasia in einer Kommulka lebt. Grischa ist der Klassenclown, ein charmanter Junge, ein begabtes Kind – und gefährlich anders als alle anderen. Grischa hinterfragt Dinge, er will verstehen und wissen und – wie man im Laufe der Geschichte feststellen kann – er lernt nie, seine Fragen zu filtern, er lernt nie, wann er vielleicht besser den Mund halten sollte, um sich nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Grischa ist jemand, der anscheinend niemals Angst hat, während gerade dieser Punkt – ebenso wie seine kritische Haltung zum System – seiner Familie umso mehr Angst macht.

Die Kapitel rund um Grischa fand ich wunderschön. Eingeleitet wurden diese von Listen (zum Beispiel von „Männern mit schönen Händen“ oder „Sachen, die ich meiner Mutter wünsche“) und sie erzählten auf eine wunderschöne und sehr liebevolle Weise vom Anderssein, vom Hinterfragen eines Systems wie es in der Sowjetunion herrschte, und von dem Bedürfnis eines Künstlers, sich frei ausdrücken zu können. Überhaupt hat es Lena Gorelik geschafft, wunderschön zu beschreiben, wie Grischa seine Umgebung wahrnimmt, wie er sich die Bilder zu dem Erlebten vorstellt, wie er Stimmungen und Gefühle in Maltechniken (nicht Farben!) empfindet.

Sofia hingegen fand ich nicht so überzeugend. Nicht wegen ihrer Listen, die ich in gewisser Weise charmant fand, sondern weil ich sie als so anstrengend empfunden habe. Dabei muss ich zugeben, dass die Probleme, die ich mit der Protagonisten hatte, die gleichen Probleme waren, die die Protagonistin mit sich selber hatte. Sofia war so schrecklich überempfindlich. Während der aktuellen Szenen konnte ich es noch verstehen, die anstehende Operation belastete sie ebenso wie die Situation ihre Großmutter, zu der sie als Kind ein sehr enges Verhältnis hatte. Aber auch bei den Kindheitsszenen schien sie mir überempfindlich und immer undankbar, immer gereizt, immer bereit zum Angriff – mir fehlte da wirklich ein „schöner“ Ausgleich, ein Charakterzug, der vielleicht erklärt, warum jemand mit dieser Person überhaupt eine Beziehung eingehen würde. Auf der anderen Seite gab es viele Momenten zwischen Sofia und ihrer Familie und auch Grischa und seiner Familie, die wiederum in mir Erinnerungen an meine Familie geweckt haben und die ich als universell familiär empfunden habe.

Lena Gorelik erzählt beide Geschichten sehr episodenhaft. Sie erklärt viele Dinge nicht, gibt am Ende keine Antworten auf bestimmte Fragen, aber gerade das mochte ich, weil es Raum für die eigenen Gedanken bietet und weil die Handlung es auch nicht nötigt hat, dass alles geklärt wird. Wie schon gesagt, habe ich einen sehr intensiven Tag mit dem Buch erlebt und habe das sehr genossen. Auf der anderen Seite muss ich nach gerade mal zwei Tagen feststellen, dass abgesehen von einigen kleinen Szenen und einigen Gefühlen, die ich mit dem Roman verbinde, es eigentlich nur Grischa ist, der sich bei mir festgesetzt hat und der wohl noch ein wenig in Erinnerung bleiben möchte.

11 Kommentare

  1. Dieser Roman ist mir auch mal wo untergekommen, aber obwohl er interessant klingt, konnte mich dann die Leseprobe nicht überzeugen. Den ganz großen Wurf habe ich damit wohl nicht verpasst.

  2. Manche Passagen fand ich wirklich großartig und eindringlich, aber insgesamt würde ich den Roman nicht als "ganz großen Wurf" bezeichnen, dafür gab es zu viele Absätze, die mich ohne Abgabetermin im Hinterkopf vermutlich dazu gebracht hätten, das Buch zur Seite zu legen..

  3. Von der Listensammlerin habe ich auch schon gehört und sie steht auch auf meiner Wunschliste. Wäre das nicht schon so, wäre das jetzt nach dem Lesen deiner Rezension der Fall. Wobei ich mir Sofia deiner Beschreibung nach auch anstrengend vorstelle.

  4. @Julia: Sofia fand ich wirklich anstrengend, aber sie hat ja gerade auch ein anstrengendes Leben. 😉 Ich bin gespannt, ob du sie erträglicher findest und was du nach dem Lesen von Grischa hältst. 🙂

  5. Ah, das Buch steht auch noch auf meiner Wunschliste. Ich überlege die ganze Zeit schon, das Hörbuch zu versuchen, aber irgendwie sind andere Bücher damm immer wichtiger…

  6. @Hermia: Klang die Hörprobe denn gut? Ich könnte mir vorstellen, dass Sofia gehört sympathischer wirkt und auch Grischa könnte – mit dem richtigen Sprecher – toll rüberkommen. 🙂

  7. Ich kenne Eva Meckbach, die Sprecherin noch nicht, aber die ersten paar Minuten,die ich mir bei Audible angehört habe, fand ich recht angenehm. Vielleicht etwas jung…

  8. Nun, das wäre eine der wenigen Geschichten, bei denen ich denke, dass eine gute (!) Bearbeitung gar nicht so schlecht wäre. Etwas weniger Sofia hätte mir bei dem Buch gut gefallen. Wenn allerdings die Grischa-Passagen gekürzt wurden, dann fände ich es schwierig.

  9. Diesen Roman von Lena Gorelik kenne ich noch nicht. Aber die beiden, die ich gelesen habe (u.a. auch "Grischa …." als quasi-Biographisches für die Sachbuch-Challenge" mochte ich gern. Das hatte auch mit dem Schreibstil der Autorin zu tun und auch ihrem Humor, mit dem sie auf familiäre Szenen, die es auch in den beiden von mir gelesenen Büchern zuhauf gibt, blickt.

  10. @Natira: Weder "Lieber Mischa", noch "Meine weißen Nächte" kenne ich, aber gerade in den Grischa-Passagen mochte ich den Humor auch. Die Sofia-Passagen fand ich nur selten wirklich humorgeeignet, obwohl einige Familienszenen eigentlich schon lustig und vor allem schön genau beobachtet waren.

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