Schlagwort: Russland

Erika Fatland: Sowjetistan – Eine Reise durch …

 … Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan. Nachdem ich im vergangenen Jahr so begeistert von „Die Grenze“ von Erika Fatland war, habe ich mir direkt nach dem Lesen des Titels auch das erste Buch der Autorin in der Bibliothek vorgemerkt. Während sie sich in „Die Grenze“ Russland von außen nähert und schaut, welchen Einfluss das Land (im Laufe der Geschichte bis heute) auf seine Nachbarländer hatte, hat sie sich in „Sowjetistan“ auf die fünf zentralasiatischen Ländern konzentriert, die nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden. Zu Recht merkt die Autorin dabei in ihrem Vorwort an, dass in der Regel nur sehr, sehr wenig über diese fünf Länder bekannt ist – ich glaube, ohne die „Last Week Tonight“-Folge, in der sich John Oliver mit dem turkmenischen Präsidenten Gurbanguly Berdimuhamedov beschäftigt, und natürlich „Die Grenze“ hätte ich persönlich fast vergessen, dass diese Länder überhaupt existieren.

Auch in diesem Buch bietet Erika Fatland eine gute Mischung aus historischen Daten und Fakten, Beschreibungen der aktuellen Situation in den verschiedenen Ländern und kleinen persönlichen Szenen rund um die Menschen, die sie im Jahr 2014 auf ihrer Reise getroffen hat. Ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass sie sich intensiver mit den einzelnen Ländern auseinandersetzen konnte, als sie es bei „Die Grenze“ getan hat – was nicht verwunderlich wäre, denn bei „Sowjetistan“ konzentriert sie sich halt auf gerade mal fünf Länder statt auf vierzehn. Bei „Die Grenze“ hatte ich das Gefühl, dass ich langfristig vor allem die kleinen Momente in Erinnerung behalte, die Begegnungen mit den Menschen, das Bild von dem Mann, der in einem Land schlafen ging und in einem anderen Land aufwachte (weil der Grenzzaun mal eben verschoben wurde), und natürlich die Beklemmungen, die einen bei einer solchen Reise begleiten, weil eben nicht jedes dieser Länder human mit Personen umgeht, die sie als Journalisten identifizieren, und weil sich einfach grundsätzlich jede Person in einer Diktatur (oder einem vergleichbaren System) nicht einen Moment des Tages in Sicherheit wiegen kann.

Auch bei „Sowjetistan“ gab es diese Momente für Erika Fatland, die Grenzüberquerungen, bei denen sie fürchten musste, dass man ihr nicht glaubt, dass sie nur eine Studentin und Touristin ist, oder die Gespräche mit den ihr zugewiesenen präsidententreuen Reisebegleitern. Doch dieses Mal bleiben mir wohl vor allem all die Absätze in Erinnerung, die (wieder einmal) zeigen, wie sehr die Sowjetunion mit ihrem Versuch der Gleichmacherei dem Land und den Menschen unter ihrer Herrschaft geschadet hat. Die verseuchten Gebiete in Kasachstan, in denen die UdSSR ihre Atomversuche durchführte, all die verödeten Landstriche, die als Kornkammern der Sowjetunion dienen sollten, aber nicht ohne Grund bis zu diesem Zeitpunkt nur als Heimat von Normaden dienten, willkürlich gezogene Landesgrenzen und natürlich die Menschen, die von einem Moment auf den anderen nur mit den Kleidern, die sie am Leib trugen, in einem dieser kargen Landstriche ausgesetzt wurden, in der Hoffnung, dass man so eine Volksgruppe oder eine Religion ausgelöscht bekommt. Zum Teil sind diese Vorkommnisse schon zwei oder drei Generationen oder länger her, und doch ziehen sich die Spuren, die diese Politik hinterlassen hat, durch das gesamte Buch.

Trotz dieser bedrückenden Sammlung von – historischen und aktuellen – Daten und Fakten liest sich „Sowjetistan“ aufgrund der Erzählweise von Erika Fatland und all den Begegnungen mit freundlichen, liebenswerten und skurrilen Menschen wirklich gut. Viel Szenen sind unterhaltsam und witzig – ich hätte zu gern das Gesicht der Autorin gesehen, als sie sich über den köstlichen Apfel freut, den sie in der für ihre Äpfel berühmten Stadt Alma-Ata bzw. Almaty gekauft hat, nur um dann zu erfahren, dass diese Frucht aus China importiert wurde. All diese kleinen Momente sorgen dafür, dass man neugierig auf die verschiedenen Länder und ihre Bewohner bleibt, auch wenn es einem oft genug die Sprache verschlägt, wenn man von Armut, Verfolgung oder brutalen Brautentführungen liest. Am Ende des Buches bleibt bei mir aber vor allem ein Gedanke hängen: Wie wenig ich doch über all die Länder der ehemaligen Sowjetunion weiß und wie wenig über viele von ihnen in den westlichen Medien berichtet wird. Ein bisschen habe ich diese Wissenslücke durch „Sowjetistan“ (und meine vorherige Lektüre von „Die Grenze“) ändern können, und ich hoffe, dass ich in Zukunft noch auf weitere – gut geschriebene! – Titel stoße, mit denen ich diese Wissenslücke etwas weiter schließen kann.

Erika Fatland: Die Grenze – Eine Reise rund um Russland …

… durch Nordkorea, China, die Mongolei, Kasachstan, Aserbaidschan, Georgien, die Ukraine, Weißrussland, Litauen, Polen, Lettland, Estland, Finnland, Norwegen sowie die Nordostpassage. Über „Die Grenze“ von Erika Fatland bin ich bei Helma gestolpert, die das Buch erst auf Twitter und später in ihrem Blog so sehr gelobt hatte, dass ich es spontan in der Bibliothek vorgemerkte. Die Autorin beginnt ihren Reisebericht mit der – im Vergleich zu den restlichen Erlebnissen – überraschend entspannten Seefahrt entlang der Nordostpassage, und schon hier hat mich die Erzählweise der Autorin gut unterhalten. Erika Fatland hat ein Händchen dafür, ihre Reiseerlebnisse inkusive diverser Anekdoten zu den verschiedenen Menschen, denen sie während der Reihe begegnet, mit einer gut lesbaren Zusammenfassung der Historie einer Region zu vermischen. So lernt man nicht nur Land und Leute durch die Augen der Autorin kennen, sondern kann die verschiedenen Erlebnisse auch in einen Zusammenhang mit der Geschichte und der aktuellen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation der jeweiligen Region bringen.

Das Buch wurde von Erika Fatland in vier Abschnitte („Das Meer“, „Asien“, „Kaukasus“ und „Europa“) unterteilt, wobei die Autorin den letzten Teil ihrer Reise – die Reise entlang der Nordostpassage – als Einleitung ihres Berichts gewählt hat. Doch egal in welchem Gebiet entlang der russischen Grenze sich der Leser mit Erika Fatland bewegt, immer wird deutlich, wie sehr sich diese Grenze im Laufe der Zeit verschoben hat, wie groß Russlands Einfluss auf die Nachbarländer in den vergangenen Jahrhunderten war und wie wenig sich doch daran in den vergangenen Jahren geändert hat, auch wenn es die UdSSR schon lange nicht mehr gibt. Dabei muss man sich nicht einmal ein so gravierendes Beispiel wie die Ereignisse in den letzten Jahren auf der Krim-Halbinsel vor Augen führen. Auch ohne den Einsatz von Soldaten gibt es in „Die Grenze“ viele Beispiele, wie Russland auch heute noch die Länder auf der anderen Seite der Grenze durch seine wirtschaftliche oder politische Macht beeinflusst.

Ich muss gestehen, dass ich erwartet hatte, dass ich den asiatischen Teil des Reiseberichts am spannendsten finden würde, weil ich in der Region nicht besonders bewandert bin, wenn es um die Geschichte der verschiedenen Länder geht. Aber am Ende gibt es eigentlich kein Kapitel, das ich weniger spannend fand als die anderen. Selbst rund um Nordkorea – wo man einfach eingestehen muss, dass jede Person, die jemals in Pjöngjang gewesen ist, dasselbe zu erzählen hat – gab es in „Die Grenze“ so einiges Neues für mich zu entdecken, weil es der Autorin gelungen ist, in Gebiete außerhalb der Hauptstadt zu fahren und diese Erlebnisse dann in ihrem Bericht geschickt mit den historischen Ereignissen zu verknüpfen. Es war wirklich spannend, die verschiedenen Länder zu entdecken und dabei die ganze Zeit die Frage nach ihrer Verbindung zu Russland im Hinterkopf zu halten. Außerdem hat es mir (obwohl einige Berichte wirklich erschütternd waren) viel Freude gemacht, all die verschiedenen Menschen kennenzulernen, denen Erika Fatland während ihrer Reise begegnet ist und die einen Platz in diesem Buch bekommen haben.

Auch wenn ich nach dem Lesen ein wenig überfordert war mit all den Daten und Fakten über die Geschichte dieser vielen verschiedenen Länder, so gibt es doch viele Details und Personen, die einen bleibenen Eindruck bei mir hinterlassen haben. Schuld daran ist die wirklich flüssige und nachvollziehbare Erzählweise von Erika Fatland, der es gelungen ist, einen persönlichen Blick auf all die Menschen, Städte und Landschaften zu werfen, ohne mir als Leser dabei das Gefühl zu geben, sie würde mir ihre Sicht aufdrängen. Selbst bei den Passagen, in denen deutlich wird, dass sie überfordert und übermüdet war und nicht glücklich mit ihrem aktuellen Aufenthaltsort, gelingt es ihr, nicht nörgelig zu klingen, sondern genügend Abstand zu diesem Punkt der Reise aufzubauen, um deutlich zu machen, dass ein Teil dieses Eindrucks eben aufgrund ihrer Verfassung entstanden sein könnte. Ich bin wirklich begeistert von Erika Fatlands Art, ihre Reiseerlebnisse mit der Geschichte der jeweiligen Region zu verbinden und dem Leser so einen (groben) historischen Überblick und gleichzeitig einen persönlichen Blick auf die vielen Länder entlang der russischen Grenze zu bieten. Und weil ich so angetan von „Die Grenze“ war, habe ich gleich noch „Sowjetistan“ von der Autorin in der Bibliothek vorgemerkt, obwohl ich mich im kommenden Jahr doch eigentlich auf die Sachbücher von meinem SuB konzentrieren wollte.

Lena Gorelik: Die Listensammlerin

Ich habe keine Ahnung mehr, wie und wo ich über „Die Listensammlerin“ von Lena Gorelik gestolpert bin, aber vor ein paar Wochen meldete mir die Bibliothek, dass das Buch für mich zur Abholung bereit stünde. Gelesen habe ich es dann (mal wieder) am Tag vor der Abgabe und habe so einen sehr intensiven Dienstag mit Sofia, Anna, Flox, Grischa, Anastasia und dem Rest der Familie verbracht.

Auf der einen Seite erzählt „Die Listensammlerin“ von der unglücklichen Autorin Sofia, die seit der Geburt ihrer Tochter keine einzige Geschichte mehr geschrieben hat, mit ihrem Leben nicht zurechtkommt und die ich ehrlich gesagt auch als sehr anstrengend empfunden habe. Sofia ist es auch, die Listen sammelt. Schon von Kindheit an erstellte sie Listen über alle möglichen Dinge, ergänzte und pflegte sie und hob sie auf. Ihre Listen geben ihr Halt, wenn ihr das Leben zu viel wird, wenn es zu einer Ausnahmesituation kommt oder wenn sie etwas verarbeiten muss. Dabei drehen sich die Listen um so gut wie jedes Themengebiet von „Sätze, die ich niemals sagen wollte“ über „Szenen meines Lebens, die aus einem (Hollywood-)Film stammen könnten“ bis zu „Momente, in denen ich Frank [das ist ihr Stiefvater] weinen sah“.

Sofias Passagen erstrecken sich eigentlich nur über wenige Tage. Tage, in denen sie auf die dritte Operation ihrer mit einem Herzfehler geborenen Tochter wartet, in denen sie ihre an Alzheimer erkrankte Großmutter im Pflegeheim besucht, in denen sie die frühere Wohnung der Großmutter ausräumt, in denen sie sich an die vergangenen zwei Jahre erinnert, in denen sie und ihr Freund Flox mit der Krankheit und dem möglichen Tod von Anna fertig werden mussten, in denen sie sich mit ihrem Verhältnis zu ihrer Mutter Anastasia beschäftigt und in denen sie herausfindet, dass sie nicht die einzige Person in der Familie ist, die Listen schreibt.

Der andere Erzählstrang beginnt sehr viel früher in der Sowjetunion und erzählt von Grischa, der mit seinen Eltern, seinem großen Bruder Andrej und seiner kleinen Schwester Anastasia in einer Kommulka lebt. Grischa ist der Klassenclown, ein charmanter Junge, ein begabtes Kind – und gefährlich anders als alle anderen. Grischa hinterfragt Dinge, er will verstehen und wissen und – wie man im Laufe der Geschichte feststellen kann – er lernt nie, seine Fragen zu filtern, er lernt nie, wann er vielleicht besser den Mund halten sollte, um sich nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Grischa ist jemand, der anscheinend niemals Angst hat, während gerade dieser Punkt – ebenso wie seine kritische Haltung zum System – seiner Familie umso mehr Angst macht.

Die Kapitel rund um Grischa fand ich wunderschön. Eingeleitet wurden diese von Listen (zum Beispiel von „Männern mit schönen Händen“ oder „Sachen, die ich meiner Mutter wünsche“) und sie erzählten auf eine wunderschöne und sehr liebevolle Weise vom Anderssein, vom Hinterfragen eines Systems wie es in der Sowjetunion herrschte, und von dem Bedürfnis eines Künstlers, sich frei ausdrücken zu können. Überhaupt hat es Lena Gorelik geschafft, wunderschön zu beschreiben, wie Grischa seine Umgebung wahrnimmt, wie er sich die Bilder zu dem Erlebten vorstellt, wie er Stimmungen und Gefühle in Maltechniken (nicht Farben!) empfindet.

Sofia hingegen fand ich nicht so überzeugend. Nicht wegen ihrer Listen, die ich in gewisser Weise charmant fand, sondern weil ich sie als so anstrengend empfunden habe. Dabei muss ich zugeben, dass die Probleme, die ich mit der Protagonisten hatte, die gleichen Probleme waren, die die Protagonistin mit sich selber hatte. Sofia war so schrecklich überempfindlich. Während der aktuellen Szenen konnte ich es noch verstehen, die anstehende Operation belastete sie ebenso wie die Situation ihre Großmutter, zu der sie als Kind ein sehr enges Verhältnis hatte. Aber auch bei den Kindheitsszenen schien sie mir überempfindlich und immer undankbar, immer gereizt, immer bereit zum Angriff – mir fehlte da wirklich ein „schöner“ Ausgleich, ein Charakterzug, der vielleicht erklärt, warum jemand mit dieser Person überhaupt eine Beziehung eingehen würde. Auf der anderen Seite gab es viele Momenten zwischen Sofia und ihrer Familie und auch Grischa und seiner Familie, die wiederum in mir Erinnerungen an meine Familie geweckt haben und die ich als universell familiär empfunden habe.

Lena Gorelik erzählt beide Geschichten sehr episodenhaft. Sie erklärt viele Dinge nicht, gibt am Ende keine Antworten auf bestimmte Fragen, aber gerade das mochte ich, weil es Raum für die eigenen Gedanken bietet und weil die Handlung es auch nicht nötigt hat, dass alles geklärt wird. Wie schon gesagt, habe ich einen sehr intensiven Tag mit dem Buch erlebt und habe das sehr genossen. Auf der anderen Seite muss ich nach gerade mal zwei Tagen feststellen, dass abgesehen von einigen kleinen Szenen und einigen Gefühlen, die ich mit dem Roman verbinde, es eigentlich nur Grischa ist, der sich bei mir festgesetzt hat und der wohl noch ein wenig in Erinnerung bleiben möchte.