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Keigo Higashino: Unter der Mitternachtssonne

„Unter der Mitternachtssonne“ von Keigo Higashino ist in diesem Jahr in Deutschland erschienen, wobei das Original schon 1999 in Japan veröffentlicht wurde. Die Handlung in diesem Kriminalroman zieht sich über fast zwanzig Jahre hin und beginnt im Jahr 1973, als der Pfandleiher Yosuke Kirihara ermordet wird. Anfangs verfolgt der Leser die Ermittlungen in diesem Mord aus der Sicht des Kommissars Sasagaki, aber im Laufe des Romans erlebt man die Handlung aus vielen verschiedenen Perspektiven. Diese Perspektivwechsel waren für mich anfangs gewöhnungsbedürftig, vor allem, da ich mich immer fragte, ob ich der Person schon mal im Laufe der Geschichte begegnet bin und mich nur nicht erinnern kann oder ob das jetzt ein neu eingeführter Charakter war. (In der Regel war Letzteres der Fall und ich hätte einfach weiterlesen können, weil man die neue Figur in den meisten Kapiteln schnell in der Gesamthandlung unterbringen konnte.)

Schon früh steht fest, dass der Mord an Yosuke Kirihara nicht so einfach zu klären ist. Es gibt einige Verdächtige, aber entweder lässt sich kein ausreichendes Motiv ermitteln oder die Alibis der Verdächtigen können nicht erschüttert werden. Außerdem ist sich Kommissar Sasagaki sicher, dass ihm irgendein wichtiger Aspekt im Leben des Yosuke Kirihara entgangen ist bzw. nicht von seinen Familienmitgliedern und Bekannten erwähnt wurde, der ihn auf die richtige Fährte hätte bringen können. All diese Ungereimtheiten sorgen dafür, dass der Fall Kommissar Sasagaki auch in den kommenden Jahren nicht loslässt. Und auch den Leser, der – nicht nur dank des unglücklich formulierten deutschen Klappentextes – schon früh einen Verdacht bezüglich des bzw. der Täter hat, beschäftigt die Durchführung dieses ersten Verbrechens bis zum Ende des Romans. Wie so oft bei Keigo Higashino befasst man sich als Leser weniger mit der Frage, wer eine Tat begangen hat, sondern damit, wie genau der Mord verübt wurde und wie die Spuren verwischt wurden, die zur Überführung des Verbrechers hätten führen können. Dabei geht der Autor in diesem Roman sogar noch ein Stück weiter als in den anderen bisher von ihm übersetzten Titeln und lässt den Leser den weiteren Weg der betreffenden Personen verfolgen.

So spielt Keigo Higashino über den Großteil des Buches sehr schön mit dem, was man als Leser über diese Personen weiß, und dem, was die Charaktere, aus deren Perspektive man den entsprechenden Abschnitt liest, über sie denken. So wird die Spannung in „Unter der Mitternachtssonne“ weniger durch die Frage erzeugt, wie die Verdächtigen am Ende vielleicht doch noch überführt werden, sondern wie viele Leben sie auf ihrem weiteren Weg noch zerstören und zu welchen Mitteln sie greifen, um ihre Pläne zu verwirklichen. Gerade wenn man diese Passagen aus der Sicht einer Person liest, die in einem der Verdächtigen einen Freund sieht, bangt man schnell um das weitere Schicksal dieses – häufig recht jungen und naiven – Charakters. Dabei sorgt der zurückhaltende Erzählstil des Autors dafür, dass man selbst beim Lesen der wirklich dramatischen Ereignisse weniger emotional betroffen ist, als dass man fasziniert ist von den Wendungen, die die Geschichte nimmt, und den skrupelosen Methoden, die immer wieder angewandt werden.

Trotz dieser relativ großen Distanz zu den Charakteren gefällt es mir immer wieder, wie Keigo Higashino Menschen darstellt. Seine Figuren sind selten schwarz-weiß gezeichnet, sondern Personen mit Stärken und Schwächen, mit Ängsten, die ihr Handeln bestimmen, und mit Wünschen und Träumen, die man als Leser nachvollziehen kann. Doch bei „Unter der Mitternachtssonne“ beweist der Autor nicht nur ein gutes Händchen für die Charaktere, sondern auch für all die Elemente, die so typisch für ihre jeweilige Zeit sind. Im Laufe der Kapitel erlebt man als Leser (noch einmal) die technische, politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung von 1973 bis 1992 mit, während sich zum Beispiel eine Gruppe von Schülern über einen Kinofilm unterhält, ein Spieleentwickler sich Gedanken über das Copyright macht oder ein Liebhaber seine Frau nicht verlässt, weil er das während des Wirtschaftsbooms gekaufte Apartment nicht ohne das Geld ihres Vaters abbezahlen kann. Dieses gekonnte Einfangen des jeweiligen Zeitgeists hat für mich bei „Unter der Mitternachtssonne“ einen fast ebenso großen Anteil am Lesevergnügen gehabt wie die sich über beinahe zwanzig Jahre hinziehenden und überraschend detailliert erzählten Folgen des Mordes an dem Pfandleiher. Ich weiß nicht, ob Keigo Higashino weitere Romane von diesem Umfang und dieser Komplexität geschrieben hat, aber wenn dies der Fall sein sollte, dann hoffe ich sehr, dass davon noch mehr ins Deutsche übersetzt werden.

Keigo Higashino: Heilige Mörderin (Professor Yukawa 2)

Auch „Heilige Mörderin“ von Keigo Higashino war eine Leihgabe von Natira. Der Roman ist im Original der fünfte Band mit Professor Yukawa und der zweite, der ins Deutsche übersetzt wurde. Wie schon bei „Verdächtige Geliebte“ weiß man als Leser von Anfang an, wer den Mord an dem Geschäftsmann Yoshitaka Mashiba begangen hat. Die große Frage besteht darin, wie die Tat begangen wurde und ob man es der Mörderin nachweisen kann. Abgesehen von der ersten Szene, in der Ayane Mashiba von ihrem Mann erfährt, dass er sich scheiden lassen will, weil sie bislang nicht schwanger geworden ist, bekommt man keine Einsicht in die Gedanken der Mörderin.

So weiß man als Leser zwar, dass dieser Moment, in dem ihr Mann ihr seinen Entschluss mitteilt, sich von ihr trennen zu wollen, der Auslöser ist, aber weder die Vorgeschichte noch die genauen Hintergründe rund um das Verbrechen sind bekannt. So tappt man wie die Polizei im Dunkeln, wenn es um das wirkliche Motiv für die Tat und die genaue Durchführung des Mordes geht. Die einzigen bekannten Punkte sind die, dass sich Yoshitaka von seiner Frau scheiden lassen wollte, dass er ein Verhältnis mit ihrer Angestellten Hiromi Wakayama hatte und dass er mit Arsensäure vergiftet wurde, während Ayane verreist war.

Obwohl man keine Einsicht in Ayanes Gedanken bekommt, ist einem die Frau nicht unsympathisch. Sie hat anscheinend sehr viel Arbeit in ihre Ehe investiert und das vergangene Jahr über alles dafür getan, dass es ihrem Mann gutgeht. Sie ist die perfekte Gastgeberin, sie sorgt dafür, dass das gemeinsame Heim gemütlich und voll blühender Blumen ist, und sie hat ihren eigenen Beruf – das Führen einer Patchworkschule – so weit hintangestellt, dass nun Hiromi den Unterricht gibt, während Ayane nur noch in ihrem Wohnzimmer an ihren Patchworkarbeiten näht. Auch auf Inspektor Kusanagi macht die zurückhaltende Frau großen Eindruck, was seine Untergebene Kaoru Utsumi befürchten lässt, dass er nicht objektiv an die Ermittlungen herangeht.

Diese Befürchtung und die Tatsache, dass die Polizei absolut nicht in der Lage ist herauszufinden, wie dem Ermordeten das Gift verabreicht wurde, führt dazu, dass sich Kaoru Utsumi hinter Inspektor Kusanagis Rücken an Professor Yukawa wendet. Er hat der Polizei schon so oft bei ihren Fällen geholfen und sein wissenschaftlicher und analytischer Verstand lässt ihn eine ganz andere Perspektive bezüglich dieses kriminalistischen Problems einnehmen. Dabei weiht der Physiker die Polizisten selten detailliert in seine Überlegungen ein, sondern prüft lieber vor Ort (oder mit der Unterstützung von Speziallabors) seine Hypothesen.

So ensteht die Spannung in „Heilige Mörderin“ vor allem aus den zwischenmenschlichen Momenten. Egal, ob es dabei um das Verhältnis zwischen Inspektor Kusanagi und der Verdächtigen geht, um die Zusammenarbeit zwischen dem Inspektor und seiner Untergebenen oder um die Momente, in denen sich Ayane und Hiromi über ihre gemeinsame Arbeit oder den verstorbenen Yoshitaka austauschen. Bei jedem Gespräch, bei jedem Aufeinandertreffen fragt man sich, ob es einen neuen Hinweis geben könnte, der Licht in die ganze Angelegenheit bringen könnte. Dazu kommen noch all die kleinen Momente, die – gerade, weil sie so alltäglich sind – viel über Japan und das Leben der Menschen dort aufzeigen, was ich immer wieder faszinierend finde.

Oh, und nachdem ich ja gerade vor kurzem erst „Böse Absichten“ gelesen habe, fand ich es interessant, dass Kaigo Higashino zwar immer sehr, sehr ähnlich an eine Kriminalgeschichte herangeht, dass es ihm aber trotzdem gelingt, jedes Mal eine ganz eigene Atmosphäre zu schaffen, die jedem Roman einen individuellen Touch verleiht. Das hängt nicht nur mit dem jeweiligen Mord zusammen, sondern auch mit den Charakteren, die gerade durch ihre Zurückhaltung und durch die wenigen Informationen, die man über sie erhält, einen großen Eindruck hinterlassen.

Keigo Higashino: Böse Absichten (Inspektor Kaga 1)

„Böse Absichten“ von Keigo Higashino ist eine Leihgabe von Natira, die mir im vergangenen Jahr auch schon „Verdächtige Geliebte“ von dem Autor geliehen hatte. Vom deutschen Verlag wird „Böse Absichten“ als erster Band der „Inspektor Kaga“-Reihe bezeichnet, laut Wikipedia ist es nur der erste ins Deutsche übersetzte Teil der Reihe und die vierte Veröffentlichung rund um diesen Inspektor. Auch „Verdächtige Geliebte“ war nicht der erste Band rund um den Physikprofessor Yukawa, sondern schon der dritte Roman mit diesem Protagonisten. So etwas finde ich immer wieder sehr nervig, aber ohne besondere Fremdsprachenkenntnisse bin ich nun mal auf die Veröffentlichungspolitik der deutschen Verlage angewiesen – immerhin muss ich zugeben, dass „Verdächtige Geliebte“ ebenso wie „Böse Absichten“ auch ohne Vorwissen gut zu lesen waren.

Ich bin etwas verhalten an den Roman herangegangen, weil ich „Verdächtige Geliebte“ zwar sehr gern gelesen hatte, aber nach den ersten Seiten von „Böse Absichten“ befürchtete, dass der Autor sich bei seiner Herangehensweise an die Geschichte zu sehr wiederholen würde. Denn ebenso wie bei „Verdächtige Geliebte“ bekommt man bei „Böse Absichten“ einen Teil der Handlung von einem Verdächtigen erzählt und erlebt so als Leser die Geschichte gefiltert durch die Sicht eines Beteiligten. Aber es ist Keigo Higashino zum Glück gelungen die Ereignisse rund um den Mord an dem Schriftsteller Kunihiko Hidaka so zu gestalten, dass es für den Leser immer wieder überraschende Wendungen und unerwartete Ereignisse gab.

„Böse Absichten“ ist kein klassischer Krimi. Man bekommt als Leser von dem Verdächtigen Osamu Nonoguchi erzählt, wie er eines Abends seinen Freund Kunihiko Hidaka besuchen wollte und das Haus scheinbar leer vorfand. Kurz darauf entdeckt er mit der herbeigerufenen Ehefrau des Schriftstellers den Toten. Da auch Osamu Nonoguchi Schriftsteller ist, ist es ihm ein Bedürfnis dieses erschütternde Erlebnis festzuhalten und so beginnt er detaillierte Aufzeichnungen über den Tag, an dem er den Ermordeten zum letzten Mal gesehen hat, über die nicht eingehaltene Verabredung und die folgenden Begegnungen mit potenziellen Verdächtigen, Betroffenen und der Polizei.

Nonoguchis Aufzeichnungen werden ergänzt durch die Berichte und Notizen des Kommissars. Dabei muss sich Kommissar Kaga während der Ermittlungen nicht nur in die Person des Mörders versetzen und intensive Nachforschungen anstellen, um überhaupt erst einmal ein mögliches Motiv zu entdecken, sondern er muss im Laufe der Zeit auch alles, was er als gegebenes Wissen über die verschiedenen Beteiligten gespeichert hatte, verdrängen und noch einmal ganz von vorne anfangen.

Ich mochte die ruhige und unaufgeregte Erzählweise bei diesem Kriminalroman und die ungewöhnliche Herangehensweise des Autors. Obwohl er sich der gleichen Erzählperspektive bedient wie bei „Verdächtige Geliebte“ gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen den beiden Büchern. In „Böse Absichten“ steht relativ schnell fest wie der Mord begangen wurde (und eigentlich kann man sich als Leser auch von Anfang an sicher sein, wer die Tat verübt hat), aber es scheint einfach kein Motiv für die Ermordung von Kunihiko Hidaka zu geben. So dreht sich die Handlung weniger darum den Mörder zu finden als um die Suche nach den Hintergründen der Tat. Diese Suche führt den Kommissar in die Vergangenheit des Ermordeten bis hin zu seiner Grundschulzeit und bietet für den Leser immer wieder neue und überraschende Wendungen, die man so nicht erwarten konnte.

So eine Herangehensweise sorgt nicht gerade für eine rasante oder spannende Krimihandlung, aber für kleine und feine Szenen, die viel über die beteiligten Charaktere und die japanische Kultur aussagen, und das ist perfekt für Leser, die gern versuchen aus all den kleinen Informationen ein Gesamtbild zusammenzusetzen. Ich fand es spannend, mir meine eigenen Gedanken über das Motiv machen zu können, es hat mir Spaß gemacht, dass mich Keigo Higashino an mindestens einer Stelle aufs Glatteis geführt hat, weil ich erwartete, dass er einen Hinweis auf die „übliche Weise“ in seinen Fall einbauen würde und ich mochte das gemächliche Tempo, das mir Zeit gab über die kleinen Dinge in der Geschichte nachzudenken.

Keigo Higashino: Verdächtige Geliebte (Professor Yukawa 1)

„Verdächtige Geliebte“ von Keigo Higashino ist mir sowohl bei Natira (die mir den Roman auch geliehen hat), als auch bei Kiya begegnet – und da beiden dieser Krimi gefallen hatte, bin ich auch neugierig geworden. Schon der Anfang der Geschichte hat mir gut gefallen, bei dem man die spätere Mörderin Yasuko kennenlernt und miterleben kann, was sie zu ihrer Tat bewegt hat. Auch ihrem Nachbarn Ishigami begegnet der Leser schon früh und kann schnell erahnen, was ihn dazu bewegt hat, Yasuko beizustehen und für sie die Leiche ihres Opfers zu beseitigen. Bei solch einem Ausgangspunkt ist es selbstverständlich, dass es in diesem Kriminalroman nicht darum geht den Mörder zu überführen, sondern um die Auseinandersetzungen zwischen der Polizei bzw. ihrem „Berater“ Professor Yukawa und Ishigami, der die treibende Kraft hinter der Tatverschleierung ist.

Die gesamte Geschichte wird sehr ruhig erzählt und obwohl man als Leser von Anfang an in die groben Umstände eingeweiht wird, gibt es im Laufe der Handlung noch so einige überraschende Elemente. Ishigami ist ein Lehrer, dem die Mathematik über alles geht, und der kein nennenswertes Privatleben hat. Einzig seine Gefühle für seine Nachbarin Yasuko sorgen dafür, dass er jeden Tag – ganz irrational – einen Umweg zu seiner Arbeit macht, um von ihr sein Bento zu kaufen. Über Yasuko erfährt der Leser schon recht früh deutlich mehr. Sie war zweimal verheiratet, hat eine Tochter und hat lange Zeit als Bardame gearbeitet, um sich und ihr Kind ernähren zu können. Inzwischen arbeitet sie als Verkäuferin und scheint sehr zufrieden mit ihrem Leben zu sein. Zu ihrem Nachbarn Ishigami hat sie keinen weiteren Kontakt, wenn man von höflichen Grüßen im Treppenhaus absieht.

So stellt man sich als Leser nicht nur von Anfang an die Frage, wie genau Ishigami die Leiche beseitigt hat, sondern auch wie es mit diesen beiden ungleichen Menschen weitergehen wird. Man fragt sich, ob sie trotz des Mordes ihr Leben normal weiterführen können oder ob die Tat und die folgenden Ermittlungen nicht eine einschneidende Veränderung hervorrufen müssen. Auf der „gegnerischen“ Seite steht die Polizei und mit ihnen der Physikprofessor Yukawa. Er ist ein ehemaliger Kommilitone von Ishigami und freut sich anfangs vor allem über das unverhoffte Wiedersehen mit dem alten Freund.

Es gibt zu keiner Zeit in diesem Roman große Dramen. Alle wird ganz ruhig und leise erzählt und all die kleinen Szenen, haben dafür gesorgt, dass ich die Geschichte nicht aus der Hand legen wollte. So spannend ich die Frage fand, ob Ishigamis Einmischungen in den Mord aufgedeckt wurden und ob der Mathematiker bei seinen Plänen einen Fehler gemacht hat, so sehr haben mich auch die Momente gefesselt, in denen Yasuko und ihre Tochter versuchen ihr Leben ganz normal weiterzuführen und in denen sie darüber nachdenken, wie weit sie nun ihrem Nachbarn verpflichtet sind. Ich mochte es, wie Keigo Higashino mit kleinen Bemerkungen seinen Figuren Konturen verlieh. Es gibt keine ausführliche Innensicht, alles wird sehr fein und dezent beschrieben, was dafür sorgt, dass man sich selber seine Gedanken über die Charaktere machen muss – und das macht es für mich umso reizvoller. Und während mich sonst häufig die Details einer Auflösung enttäuschen, empfand ich das Ende dieser Geschichte – trotz einer kleinen unnötigen Wendung – als sehr eindringlich.