Xinran: Wolkentöchter

„Wolkentöchter“ von Xinran liegt schon sehr, sehr lange auf dem SuB, weil das ein Buch ist, für das ich die richtige Stimmung benötige. Genauer gesagt lag dieses Buch immer wieder auf dem SuB, da es aus einzelnen Geschichten besteht, die davon erzählen, wie in China mit den ungewollten Mädchen umgegangen wurde und wie es den Müttern erging, die ihre Töchter nicht behalten durften. So habe ich das Buch in sehr kleinen Häppchen gelesen und immer wieder aus der Hand gelegt, wenn mir das Thema zu viel wurde. obwohl die Geschichten in einem sachlichen Ton geschrieben wurde, der einen gewissen Abstand zum Beschriebenen erzeugt. Trotzdem empfand ich das Lesen als sehr belastend, weil ich mir bei jeder Geschichte, bei jedem Erlebnis, von dem Xinran erzählte, vorstellte, wie viele Frauen und Säuglinge von den gleichen Bedingungen betroffen waren und wie viel Leid und Tod die Ein-Kind-Politik der chinesischen Regierung (und das seit Jahrhunderten bestehende traditionelle Denken und Wirtschaften im ländlichen China) verursacht hat.

Die Autorin Xinran ist in China geboren und hat in den 80er und 90er Jahren in Nanjing als Radiomoderatorin gearbeitet. Während dieser Tätigkeit hat sie versucht, den Frauen eine Stimme zu geben, die keine Mütter sein durften, weil sie nur eine Tochter zur Welt gebracht haben, oder den Mädchen, die aufgrund ihres Geschlechts eine Schande für die Familie waren. Dieses Unterfangen war aufgrund der Parteipolitik nicht ganz einfach und so bekommt man auch in „Wolkentöchter“ immer wieder Momente mit, in denen Xinran nicht weiter nachfragen durfte, weil sie damit entweder gegen politische Vorgaben oder gegen die „Gebräuche“ der verschiedenen chinesischen Regionen verstoßen hätte. Seit 1997 lebt Xinran mit ihrer Familie in Großbritannien und schreibt über das Leben chinesischer Frauen während und nach der Kulturrevolution. Wobei ich den Eindruck habe, dass sie sich in „Wolkentöchter“ vor allem auf die beiden Jahrzehnte vor der Jahrtausendwende beschränkt, in denen sie als Reporterin in China unterwegs war. Aktuellere Entwicklungen werden erst in den letzten Kapiteln erwähnt bzw. in den Anhängen, in denen es zum Beispiel um die Gesetzeslage rund um Familienplanung und Adoption im Jahr 2002 geht.

Jedes Kapitel enthält ein Erlebnis, das Xinran entweder selbst hatte oder das ihr von der betroffenen Person erzählt wurde. Dabei wird deutlich, dass die Autorin selbst anfangs sehr unwissend und naiv an viele Themen herangegangen ist, weil sie als Städterin nun einmal ganz andere Lebenserfahrungen gemacht hatte als eine Frau, die in großer Armut auf dem Land lebte. So schien es in der Stadt nicht so schlimm gewesen zu sein, wenn man eine Tochter auf die Welt brachte, während dieses Schicksal für eine Frau auf dem Land nicht nur bewies, dass sie wertlos war, sondern auch bedeutete, dass die Familie hungern musste. Oder man musste eben eine andere Lösung finden, um mit dem ungewollten weiblichen Säugling umzugehen, wie Xinran bei einer Reise zu ihrem großen Entsetzen feststellen musste. Es ist schon schlimm, wenn man während des Lesens von „Wolkentöchtern“ über jeden Bericht froh ist, in dem die Eltern sich des ungewollten Mädchens nicht „entledigen“, sondern den Säugling aussetzen oder anonym zur Adoption freigeben. Dabei ist natürlich ungewiss, welches Schicksal auf die ausgesetzten Mädchen wartet und ob sie überhaupt jemanden finden würden, der sich ihrer annehmen und sie vor dem Tod bewahren würde. Aber so gab es für die Kinder wenigstens noch die Hoffnung auf ein Leben.

Dabei kann man die Eltern in einem gewissen Grad sogar verstehen, wenn sie alles taten, damit ihr „einziges“ Kind ein Sohn wird. Denn nur für einen Sohn bekamen sie Land und Getreiderationen zugeteilt, während ein Mädchen keine zusätzliche Versorgung von Regierungsseite bedeutete – und trotzdem Bedarf an Nahrung und Kleidung hatte. Doch natürlich war es für die Eltern – und hier konzentriert sich Xinran vor allem auf die Mütter – nicht leicht, ihre Kinder zu verstoßen oder gar zu töten. Egal, wie sehr das Regime versucht hat, die Menschen in China zu emotionslosen funktionierenden Wesen zu machen, so sind viele von ihnen doch auch Eltern, die Gefühle für ihre Kinder haben und denen einen Kindstötung nicht leicht fällt, selbst wenn die Dorfgemeinschaft und die Familie Druck ausüben und man weiß, dass man ein Mädchen nicht ernähren kann, ohne den Rest der Familie damit zum Hungern zu verurteilen.

So ist es beim Lesen auch immer wieder die Vorstellung von so einem unmenschlichen Regime, die mich fast mehr erschüttert als die einzelnen Schicksale. Wobei ich betonen muss, dass die Unmenschlichkeit sich nicht auf die vergangenen Jahrzehnte beschränkt, sondern – gerade gegenüber der ländlichen Bevölkerung – schon seit Jahrtausenden üblich ist. Eine Regierung, die so strikte Regeln erlässt, dass Menschen gezwungen werden, ihre Neugeborenen zu töten oder auszusetzen, die diejenigen, die versuchen ihre Kinder zu behalten, dazu zwingt, jahrelang auf der Flucht zu sein, immer in Angst zu leben und am Ende vielleicht doch dafür inhaftiert zu werden, dass man einfach nur ein Kind bekommen hat, ist für mich kaum begreiflich. Wobei ich mich frage, warum ich es einfacher zu verstehen finde, dass eine Regierung ihre Bürger in Angst und Schrecken versetzt, finanziell ausbluten lässt und für die eigenen Interessen in den Krieg führt – wie es ja weltweit tagtäglich passiert -, während mich die traditionelle Landvergabe und die Ein-Kind-Politik (und die damit einhergehenden Folgen für die Menschen) so sehr erschüttern. Aber vielleicht liegt das daran, dass ich hier an einem konkreten Beispiel die Folgen eines solchen Systems so greifbar vor Augen habe, während ein allgemein gehaltener Bericht z. B. über Landenteignungen zugunsten von Olympischen Spielen zwar auch erschreckend ist, aber mir nicht im Detail erzählt, welche Folgen das für die früheren Landbesitzer haben wird.

7 Kommentare

  1. Nicole/Frau Frieda

    Was soll ich schreiben, liebe Winterkatze? Es ist bestimmt ein aufrüttelndes Sachbuch und die Ein-Kind-Politik in China ist empörend, dennoch hätte ich keine Lust mir dieses Buch zu Gemüte zuführen. Im Moment versuche ich einfach das Weltgeschehen zu verdrängen. Wenn ich an die momentane Situation Türkei/Niederlande denke, wird mir schlecht. Was soll das alles nur hinführen?! Herzlichst, Nicole

  2. Das kann ich gut verstehen, liebe Nicole. Aktuelle Ereignisse verdränge ich zum Teil auch lieber (ich versuche gerade genug informiert zu sein, um zu wissen was los ist, und nicht so sehr, dass ich es unerträglich finde). Aber was China angeht, so ist das Thema schon so "alt", dass ich mich damit ganz gut auseinandersetzen kann. Ich finde es erschreckend, aber auch spannend was sich in den letzten Jahrzehnten in China getan hat. Es gibt so viele Meldungen, die von Öffnung und Neuerungen künden, und dann gibt es wieder die kleinen Nachrichten, die zeigen, dass in China immer noch eine menschenverachtende Partei herrscht, die alles tut, um an der Macht zu bleiben und ihrer Bevölkerung einzugrenzen. Ich muss – trotz all der schockierenden Entwicklungen in der Welt – fest daran glauben, dass man Menschen nicht auf Dauer so behandeln kann und dass sich in absehbarer Zeit etwas ändert.

  3. Ich habe deine Rezension jetzt nur halb gelesen, weil ich zu den einzelnen Geschichten jetzt gar nicht so viel wissen möchte, da es bei mir auch noch auf dem SuB liegt. Ich konnte noch nicht dazu greifen um eine der Geschichten zu lesen, es passte einfach noch nicht. Deine Einführung und das was du über die Autorin schreibst klingt aber sehr interessant und ich bin gespannt auf das Buch.

  4. @Julia: Man kann das Buch wirklich sehr gut in kleinen Häppchen lesen, wenn du es einfach mal antesten willst oder nicht genügend Zeit für eine längere Leserunde hast, kannst du das ja ins Auge fassen. Ich bin gespannt, was du am Ende dazu zu sagen hast. 🙂

  5. Puh, das klingt nach sehr hartem Tobak. Ich finde schon alleine die Zusammenfassung von dir erschreckend. Das Buch würde mich zwar interessieren, aber ich glaube, aktuell mag ich sowas nicht lesen. Ich habe zu Beginn des Jahres eine Kurzgeschichtensammlung von Joyce Carol Oates gelesen, die mir als gesamtes zu negativ war.
    Phasenweise lese ich so etwas ganz "gern", aber derzeit bin ich wohl nicht in der richtigen Stimmung dafür (ich glaube, da geht es mir ein wenig wie Nicole).

  6. @Neyasha: Ich muss sagen, dass der sachliche Stil der Autorin schon einiges abfedert. Trotzdem fand ich es schrecklich von all den Babies zu lesen, die direkt nach der Geburt entsorgt wurden, und dass ich dabei auch noch solches Mitgefühl mit den Eltern haben musste. Oft lese ich solche Bücher auch nicht, aber in kleinen Häppchen geht es. Und es ist eben die einfachste Methode, um wieder ein bisschen mehr über ein anderes Land oder eine andere Kultur zu lernen. Ich wusste zum Beispiel nicht, warum es überhaupt für die chinesische Bevölkerung auf de Land so vernichtend ist, wenn ein Mädchen geboren wird – und unter diesen Umständen kann ich wiederum die Dokumentationen über all die Mädchen, die in diesen unmenschlichen Akrobatikschulen untergebracht werden und dafür auch noch dankbar sein müssen viel besser einordnen.

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