Nachdem mir vor einem Jahr „The Girl Who Drank the Moon“ so gut gefallen hatte, hatte ich Kelly Barnhills gesamte Backlist (bei gerade mal fünf veröffentlichten Titeln klingt es nach mehr, als es ist *g*) auf meine Merkliste gesetzt. „The Witch’s Boy“ ist nun der zweite Titel der Autorin, den ich gelesen habe, und er gefiel mir auf seine Art genauso gut wie „The Girl Who Drank the Moon“. Die Geschichte in „The Witch’s Boy“ wird vor allem aus der Perspektive von Ned und Áine erzählt, die mir beide von Anfang an sehr ans Herz gewachsen waren. Ned lebt seit seiner Geburt in einem kleinen Dort am Rande des Königreichs, direkt angrenzend an den großen Wald, den jeder einzelne Bewohner des Landes fürchtet. Angeblich leben Monster in dem Wald, die jeden Menschen töten, und überhaupt sind sich alle sicher, dass es keinen Grund gibt, den Wald zu betreten, denn hinter ihm kommt nur noch das Gebirge und nach dem Gebirge endet die Welt.
Ned und sein Zwillingsbruder Tam sind die Söhne der Hexe, die das letzte bisschen Magie auf der Welt hütet. Von Geburt an wurden die beiden Jungen immer miteinander von den Dorfbewohnern verglichen, weil jeder versuchte, einen Unterschied zwischen den beiden festzustellen. Selbst bei eineiigen Zwillingen muss doch einer der klügere, hübschere oder sonst irgendwie etwas Besonderes sein – dessen war sich das ganze Dorf einig. Als es dann zu einem Unfall kam, bei dem Tam verstarb, waren sich alle sicher, dass der falsche Junge überlebt hat, und diese Ansicht schien durch die Tatsache bestätigt zu werden, dass Ned von diesem Tag an schwächlich und klein blieb, nicht mehr lesen und schreiben konnte und kein Wort ohne Stottern von sich gab. Erst als es eine Bedrohung für die Magie gibt, die von seiner Mutter gehütet wird, entdeckt Ned selbst, dass er zu mehr fähig ist, als ihm irgendjemand – ihn selbst eingeschlossen – zugetraut hätte.
Áine hingegen ist auf der anderen Seite des Waldes aufgewachsen, und solange ihre Mutter noch am Leben war, war sie sehr glücklich. Ihre Mutter hat Áine alles beigebracht, was man als erfolgreiche Fischerin wissen muss, ihr Vater war liebevoll und verdiente als Angestellter in einem Geschäft genügend, damit es der Familie gut ging. Doch dann wurde Áines Mutter krank, und nach ihrem Tod veränderte sich auch ihr Vater so sehr, dass das Mädchen ihn kaum wiedererkannte. Egal, wie sehr sich Áine einredete, dass doch alles wieder gut werden würde, so wusste sie doch tief im Inneren, dass ihr Vater kein guter Mensch mehr war und dass er als König der Banditen Pläne schmiedete, die kein gutes Ende nehmen würden.
Kelly Barnhill nimmt sich auch in diesem Roman wieder die Zeit, ausführlich die Vorgeschichte der verschiedenen Personen zu erzählen und zu erklären, wie die Welt inklusive der beiden Königreiche, die nichts voneinander wissen, so geworden ist, wie sie ist. Dabei verwebt sie diese Elemente mit den Ereignissen rund um Ned und Áine, die sich ebenfalls sehr geruhsam zu entwickeln scheinen, während gleichzeitig sehr viel innerhalb der beiden Charaktere passiert. Ich mochte das Märchenhafte an dieser Welt, in der fast jeder Mensch Angst vor dem Wald zu haben scheint, der seit langer, langer Zeit die beiden Königreiche trennt. Genaus gefielen mir wieder einmal die Charaktere, die Kelly Barnhill für ihre Geschichte geschaffen hat, denn keiner von ihnen ist einfach nur gut oder böse. Jede Figur hat gute Gründe für ihr Handeln, jeder muss gegen Versuchungen ankämpfen und einen Weg finden, um das „Richtige“ zu tun (oder um sein Tun vor sich selbst zu rechtfertigen).
Auch ist die Sprache, die Kelly Barnhill für „The Witch’s Boy“ verwendet, auf ihre Art genauso poetisch, wie es bei „The Girl Who Drank the Moon“ der Fall war. „Auf ihre Art“ deshalb, weil die Welt, in der Ned und Áine leben, eine andere und weniger magische Welt ist. Dementsprechend ist die Erzählweise der Autorin an diese Welt angepasst. Trotzdem gab es so einige Passagen, bei denen ich hängenblieb, bei denen ich den gekonnten Umgang der Autorin mit Wörtern genoss und bei denen ich hingerissen war von dem Bild, das Kelly Barnhill mit ihren wenigen Sätzen erschuf. Obwohl es eigentlich sehr viele traurige Momente in diesem Roman gibt, habe ich mich mit „The Witch’s Boy“ sehr wohlgefühlt, denn all diese negativen Elemente werden durch wunderbar warmherzige Szenen und den großartigen Humor (der besonders bei der Königin von Neds Heimatland deutlich wird) so sehr ausgeglichen, dass ich das Lesen einfach nur genießen konnte. Ich muss aber auch zugeben, dass ich für Kelly Barnhills feine Erzählweise Ruhe beim Lesen benötige, damit ich mich auf all die wunderbaren kleinen Details einlassen und nicht nur die Handlung, sondern auch die Sprache richtig würdigen kann.