Ich fürchte, ich muss euch warnen, dass das hier ein längerer Beitrag wird. Ich habe nämlich nicht nur einige Gedanken zu diesem Buch, sondern auch das Bedürfnis die Geschichte in ein Verhältnis zu den anderen Titeln von Tamora Pierce zu setzen. 😉 Wie sehr ich die Alanna-Romane von der Autorin mag, kann man schon in meinem Figurenkabinett-Beitrag zu Alanna von Trebond sehen, und an meiner Begeisterung für die Serie hat sich in den letzten dreißig Jahren nichts geändert. Ich lese sie immer wieder gern, vergieße Tränen. lache und freue mich für Alanna und ihre Freunde. Aber ich muss auch zugeben, dass die Geschichten rund um Alanna relativ gradlinig und einfach konzipiert sind. Nicht nur, weil die Handlung für Jugendliche geschrieben wurde und Tamora Pierce die Abenteuer der jungen Frau erfunden hat, während sie sie einer Gruppe von Mädchen erzählte, sondern auch weil es nun mal das erste Werk der Autorin ist. Die folgenden Serie zeigen deutlich die Entwicklung der Autorin. Ihre Charaktere sind zwar – bei allem Realismus – immer recht klar entworfen (man wird als Leser selten darüber im Umklaren gelassen, wer „gut“ und wer „böse“ ist), aber ihre Welt wird komplexer, sozialkritischer und vielfältiger.
Spielt Alannas Geschichte noch zum Großteil am Hof von Corus, wo sie – trotz aller Herausforderungen – relativ behütet in ihrem kleinen „Hofkosmos“ aufwächst, so tauchen in der dritten Tortall-Serie (rund um Keladry of Mindelan) erstmals Dienstboten auf, bei denen die Abhängigkeit von ihren Arbeitgebern ebenso spürbar ist, wie die Fragilität eines Lebens außerhalb der Adelskreise. Selbst Dhana (Protagonistin der zweiten Serie von Tamora Pierce), die aus kleinen Verhältnissen kommt und in der Vergangenheit unschöne Erlebnisse hatte, wird ab dem Moment, ab dem sie zur Angestellten des königlichen Hofs wird und ihre besondere Gabe entdeckt wird, von ihrer Arbeitgeberin und ihren Freunden behütet. So erlebt man als Leser zwar mit, wie sie Kämpfe ausfechten muss und mit ihrer Magie umzugehen lernen muss, aber sie ist die ganze Zeit über finanziell abgesichert und hat einflussreiche Persönlichkeiten, die hinter ihr stehen.
Erst bei den Emelan-Geschichten beweist Tamora Pierce, dass eine ihrer Welten vielschichtiger sein kann. Dort treffen vier Kinder mit besonderen Fähigkeiten aufeinander – und bei aller Freundschaft macht sich ihre unterschiedliche Herkunft (eine Adelige, eine Kaufmannstochter, eine Angehörige eines anderen Volkes und ein Dieb) immer wieder bemerkbar. Auch reisen die vier in den späteren Büchern mit ihren Ausbilderinnen umher und treffen auf die verschiedensten Gesellschaftsschichten. Diese Entwicklung macht die Emelan-Geschichten für mich ebenfalls zu etwas Besonderem, auch wenn viele Leser die anscheinend nicht ganz so sehr mögen wie die Tortall-Romane. Was mich jetzt endlich zu dem ersten Band rund um Beka Cooper bringt. Für diejenigen, die die Alanna-Bücher kennen: Beka ist George Coopers Vorfahrin, aber das ist auch schon die einzige direkte Verbindung zu den älteren Tortall-Geschichten.
Beka lebt dreihundert Jahre vor Alannas Geschichte in Corus, genauer gesagt wächst sie im Armenviertel der Hauptstadt auf. Zwei einleitende Berichte erzählen auf der einen Seite davon, wie ihre Mutter entdeckt, dass Beka eine (eher geringe magische) Begabung hat, auf der anderen Seite wie das damals achtjährige Mädchen einen der Wächter (Dog) mit Informationen versorgt, die es ihm ermöglichen eine berüchtigte Bande zu stellen. Dieser Tag stellt für Beka und ihre Familie einen Wendepunkt da, denn von diesem Zeitpunkt an gehören sie zu dem Haushalt des Lord of Provost, der für die Wächter verantwortlich ist und dessen Position das Mädchen mit ihren Informationen gerettet hat. Ein paar Jahre später beginnt Beka ihre Ausbildung (als Puppy) bei den Wächtern, wild entschlossen einer der besten Hunde zu werden, die je in Corus Dienst getan haben.
Bekas Geschichte wird von diesem Tag an detailliert von ihr erzählt, denn ihr Ausbilder hat ihr und ihren Kameraden aufgetragen ein Berichtsheft zu führen, um ihre Beobachtungsgabe zu schulen. So bekommt man viele Details von ihrem Alltag mit, aber auch ihre Sicht auf ihre Arbeit, auf das Leben in den Armenvierteln der Stadt – und auf die Kompromisse, die die überarbeiteten und unterbezahlten Wächter jeden Tag eingehen müssen. Sklaverei ist ein – relativ – normales Geschäft, was bedeutet, dass Kinderfänger ein relativ alltäglicher Anblick in den Armenvierteln sind, die Wächter bekommen wöchentliche „Happy Bags“ von den Händlern (und der Diebesgilde) und oft genug wird ein kleiner Verbrecher nur ermahnt, weil eine Verhaftung mehr Zeit und Aufwand bedeuten würde, als die Wächter dafür aufbringen können.
Während ihrer Ausbildung sieht Beka in den Armenvierteln wenig Neues, sie kennt das Leben in diesen Straßen, sie hat selber erlebt, wie ihre Spielgefährten von ihren Eltern verkauft wurden, damit mit dem Geld die anderen Kinder durchgefüttert werden konnten, und sie weiß um die Macht, die der Schurke (der König der Diebe) in Corus hat – oder besser gesagt hatte, denn der aktuelle Schurke ist alt und nachlässig geworden. Aber nun hat sie zum ersten Mal die Gelegenheit aktiv gegen all die Verbrechen, die Tag für Tag in den Straßen von Corus passieren, vorzugehen – und muss dabei entdecken, dass es manchmal ein schwieriger Balanceakt ist, denn nun scheint keine Seite sie mehr als dazugehörig zu empfinden.
Ich mag es, wie Tamora Pierce das Leben in den Armenvierteln beschreibt. Es ist ein schwieriges Leben, voller Armut und Krankheit und Bedrohungen, aber sie zeigt auch die „Tagseite“ dieser Viertel, die Frauen, die an den Brunnen Wasser holen, die Handwerker, die den Tag über in ihren Werkstätten arbeiten, die Händler, die für jeden Geldbeutel Ware anzubieten haben, und die Kinder, die den Tag über den Straßen spielen, bis ihre Eltern von der Arbeit nach Hause kommen. Genauso gibt es auch bei den Dogs Licht und Schatten. Einige sind voller Pflichtgefühl, wollen etwas Gutes bewirken und sich auch nach all den Jahren noch nicht abgestumpft, andere lassen sich bestechen, trinken im Dienst oder sind einfach nur unfähig. Natürlich geht es Beka relativ gut. Sie hat Arbeit, sie hat Ausbilder, die ihren Job beherrschen und sie hat Freunde, denen sie vertrauen kann und die sie unterstützen, trotzdem gibt es immer wieder kleine Momente, die zeigen, dass sie keinen einfachen Weg gewählt hat.
Dazu kommen noch die beiden großen Fälle, die sich durch den ganzen Roman ziehen. Auf der einen Seite wurden mehrere Personen ermordet – wovon Beka aufgrund ihrer Magie erfährt -, aber die Wächter können die Leichen nicht finden, was die Ermittlungen deutlich erschwert. Auf der anderen Seite scheint eine unheimliche Gestalt ihr Unwesen in den Armenvierteln zu treiben und Kinder zu stehlen. Dabei werden die Kinder nicht an die Sklavenhändler verhökert, sondern die Eltern werden um ihre wenigen wertvollen Besitztümer wie Erbstücke oder Zauberbücher gebracht. Wenn sie nicht auf die Erpressung eingehen, stirbt das Kind – und im schlimmsten Fall wird ein weiteres Kind der Familie entführt. Diese Entführungen nimmt Beka persönlich. Nicht nur wurde der kleine Sohn ihrer Freundin Tansy entführt und getötet, auch hat sie das Gefühl, dass es jederzeit auch sie oder ihrer jüngeren Geschwister hätte treffen können. Die Tatsache, dass ein Erpresser sich auf die ärmsten und hilflosesten Bürger der Stadt stürzt macht Beka wütend und sorgt dafür, dass sie in ihrer Freizeit weiter Spuren verfolgt.
Ich mag es, wie Tamora Pierce hier zeigt wie unterschiedlich Menschen auf Unglücksfälle und Erpressungen reagieren. Wie manche Personen die Situation ausnutzen und andere daran zerbrechen – und so sehr ich die Alanna-Bücher mag, so bin ich doch froh, dass sich die Autorin weiterentwickelt hat und nun vielschichtigere Charaktere und Geschichten schreibt. Trotz aller Grauschattierungen gibt es immer noch genügend Momente, die einen zum Lachen bringen oder in denen gezeigt wird, wie wichtig die Freundschaft zwischen Beka und ihren Kollegen und Mitbewohnern ist. Auch wenn einem genau diese Szenen kurz darauf dann die Tränen in die Augen treiben. Letztendlich ist Corus immer noch die Stadt, die der Leser in den ersten Geschichten von Tamora Pierce kennengelernt hat, aber dieses Mal sieht man so viel mehr Menschen und Leben auf den Straßen …
Oh, und noch ein kleiner Hinweis für Alanna-Fans: In gewisser Weise gibt es sogar ein Wiedersehen mit Immertreu. 🙂
Huhu,
ich habe deinen Beitrag jetzt nicht komplett gelesen, weil ich über Bücher, die ich evtl selbst auch noch lesen möchte, so wenig wie möglich wissen mag. Das, was ich gelesen habe, klingt aber ziemlich spannend. Schön, dass sich die Autorin entwickelt hat und du diese Entwicklung sogar noch magst. 😀
Mich reizt ja die Reihe um Dhana. Das ist doch die mit der Tiergabe, oder? Gerade sehe ich zwar nicht, dass ich demnächst Zeit für diese Bücher haben werde, weil sich so viele andere hier oder auf meiner inneren Will-ich-unbedingt-lesen-Liste stapeln, aber du hast mir auf jeden Fall wieder Lust auf Tamora Pierce gemacht. 🙂
Mh, den Namen Tamora Pierce habe ich vor Deinem Beitrag am ersten Herbstlesewochenende noch nie gehört. Das mag auch vielleicht daran liegen, dass ich es vor zog -hüstel- Jahren weder mit Fantasyfilm noch mit englischsprachigen Büchern zu tun hatte.
Beides hat sich ja zwischenzeitlich geändert und so lese ich doch auch mal in die Bücher hinein.
Grüßchen
Aly mit den drei herbstlichen (verfressenen und fellwechselnden) KuhKatzen
@Tine: Jupp, Dhana ist die mit der Tiergabe. Schön, dass ich dir Lust machen konnte, ich hoffe, du kannst den einen oder anderen Band zwischen deine Will-ich-unbedingt-lesen-Liste packen! 😀
@Aly: Umso schöner, dass du die Autorin und ihre Bücher jetzt noch entdecken kannst! 😉 Die Autorin war in Deutschland auch nicht sooo bekannt, habe ich das Gefühl. Es gibt zwar einige Fantasyleser, die ihre Alanna-Reihe kenne, aber die anderen Romane sind deutlich unbekannter – es kamen auch nicht so viele auf Deutsch raus. Ich hoffe, du hast viel Spaß, wenn du zum Reinlesen kommst. 🙂
(Fellwechsel ist bei uns auch, verfressen ist aber leider gerade nur Christie. Ich hoffe, bei den Jungs stellt sich der Appetit wieder ein, wenn es etwas kühler wird. Die letzten Tage war es arg schwül bei uns …)
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