Über die Autorin Y. S. Lee bin ich in der „The Underwater Ballroom Society“-Anthologie gestolpert, und da mir ihre Kurzgeschichte „Twelve Sisters“ so gut gefiel, habe ich nach anderen Veröffentlichungen von ihr Ausschau gehalten. „A Spy in the House“ ist der Debütroman der Autorin, und mir hat die Geschichte rund um die siebzehnjährige Mary, die mit zwölf Jahren zum Tod durch den Galgen verurteilt wurde und stattdessen eine neue Identität und eine Ausbildung als Spionin bekam, sehr gut gefallen. Marys erster Auftrag führt sie in den Haushalt des Händlers Thorold, der unter dem Verdacht steht, aus Indien und China geschmuggelte Waren unterschlagen und seine Schiffe fälschlich als verloren gemeldet zu haben. Mary weiß nicht, wer den Auftrag erteilt hat, und als Anfängerin im Geschäft soll sie nur die Vorgänge in der Familie beobachten und alle verdächtigen Informationen an ihre Vorgesetzte weiterleiten. Doch natürlich möchte Mary beweisen, dass sie gut genug für diesen Job ist, und so beginnt sie, ihre Nase aktiver in die Angelegenheiten der Thorolds zu stecken, und entdeckt so einige schmutzige Geheimnisse.
Mir hat es sehr gut gefallen, dass Marys Charakter eine glaubwürdige Mischung aus Stärken und Schwächen aufweist, die dafür sorgen, dass sie immer wieder zwischen Überschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten und Zweifeln an diesen schwankt. So findet sie zwar einige Dinge über die Familie Thorold heraus, indem sie ihre „nur beobachten“-Anweisung missachtet, stört damit aber auch die Ermittlungen ihrer (ihr unbekannten) erfahreneren Kollegin. Aber nicht nur Marys Darstellung hat mir gefallen, sondern auch die verschiedenen Nebencharaktere, die selten ins Stereotypische abgleiten und dafür im Laufe der Handlung Facetten zeigen, die sie stimmig und realistisch wirken lassen. So bekommt man die Geschichte nicht nur aus der Sicht von Mary erzählt, sondern auch aus der Perspektive von James Easton, der aus ganz eigenen Gründen versucht, mehr über die Geschäfte von Mr. Thorold herauszufinden.
Ebenso beeindruckend wie die Charaktere waren die atmosphärischen Beschreibungen von Y. S. Lee rund um das alltägliche Leben im Jahr 1858 in London, inklusive des Einflusses der Themse (und ihrer Verschmutzung) auf das Klima und die aktuellen Großbaustellen der Stadt. Die Autorin streift in „A Spy in the House“ die unterschiedlichsten Themen vom Leben in einem finanziell gut gestellten bürgerlichen Haushalt über die Lebensumstände einer Familie in ärmeren Verhältnissen und das Leben von ausländischen Seemännern in London bis zur Höhe von Bestrafungen für (kleinere) Verbrechen. Marys „verbrecherische“ Karriere, ihre überraschende Aufnahme in die Agency und ihre Herkunft bieten dabei für Y. S. Lee viele Ansatzpunkte, um all diese Aspekte natürlich in die Handlung einfließen zu lassen. Außerdem hat mich die Autorin immer wieder mit humorvollen Szenen überrascht, die ich an diesen Stellen der Handlung so nicht erwartet hätte, die mich aber wunderbar unterhalten haben.
Auch der Krimianteil in „A Spy in the House“ ist solide konstruiert und mit genügend Nebensträngen versehen, so dass man schön mitraten (und sich stellenweise in die Irre führen lassen) kann. Die Identität des „großen Bösewichts“ fand ich zwar am Ende nicht so überraschend, aber die Aufdeckung – inklusive des klassischen Geständnisses gegenüber dem nächsten Opfer – war gut genug geschrieben, dass ich damit definitiv nicht unglücklich war. Insgesamt bin ich mehr als zufrieden mit dem Roman und freu mich sehr, dass die Reihe rund um Mary und „The Agency“ vier Bände umfasst, so dass ich mich auf drei weitere Bücher freuen kann, die mir hoffentlich ebenso unterhaltsame Lesestunden bereiten wie der Auftaktband.